Berlin. In der Thüringen-Krise hält die CDU zu AfD und Linken die gleiche Distanz. Das ist politisch zu kurz gedacht – und realitätsfremd.

Würfeln wäre eine Alternative. Oder der Zufallsgenerator. Berechenbarer ist die politische Lage in Thüringen auch nicht.

Die jämmerlichste Erscheinung dieser Tage: Thomas Kemmerich. Der FDP-Mann stellte sich in Erfurt im vollen Bewusstsein zur Wahl, dass die AfD für ihn stimmen könnte. Er nahm ihre Stimmen und das Amt des Ministerpräsidenten an, nur um 24 Stunden später einer Auflösung des Landtages das Wort zu reden und zwei Tage danach zurückzutreten.

Über das Wochenende drehten sich die Verhältnisse. Eine neue Abstimmung im Landtag ist allseits gewollt, aber womöglich nicht die Lösung. Weil die AfD so maliziös sein könnte, für den Linken Bodo Ramelow zu stimmen, der dann ebenfalls kemmerichsiert wäre. Eine Landtagswahl gilt als wünschenswert, aber als unsicher. Erfurt in einem Satz: Nichts Genaueres weiß man nicht.

Kemmerich tritt als Ministerpräsident in Thüringen zurück

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    Gute Politik beginnt mit dem Betrachten der Realität

    Wenn ein Hemd falsch zugeknöpft ist, muss man neu anfangen. Im Fall Thüringens heißt das: Der Ausgangspunkt ist die Landtagswahl im letzten Herbst. Die Thüringer haben damals zu 31 Prozent für die Linke und zu 23,4 Prozent für die AfD votiert. Das mögen im Osten die Volksparteien seien, aber gemeinhin gelten sie nicht als Kräfte der Mitte.

    Wenn mehr als 54 Prozent der Stimmen auf diese beiden Parteien entfallen, ist eine Mehrheitsbildung ohne sie unmöglich. Das ist die Thüringer Realität. Früher oder später könnte es überall in den ostdeutschen Landtagen so aussehen, in Schwerin, Potsdam, in Magdeburg oder Dresden. Die Schnappatmung in fast allen Lagern nach Kemmerichs Wahl musste wohl sein. Aber jetzt wird es Zeit, zur Ruhe zu kommen und sich darauf zu besinnen, dass gute Politik mit dem Betrachten der Realität beginnt.

    Dass die CDU AfD und Linke gleichstellt, ist überholt

    Politik-Korrespondent Miguel Sanches kommentiert die Rolle der CDU in der Thüringen-Krise.
    Politik-Korrespondent Miguel Sanches kommentiert die Rolle der CDU in der Thüringen-Krise. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

    Die CDU tut sich damit schwer. Das ist ein Drama, denn aufgrund ihrer Größe und ihrer Tradition kommt ihr eine Scharnierfunktion zu. Dieses Scharnier ist eingerostet. Zur Korrosion führt der CDU-Beschluss, weder mit der AfD noch mit der Linken zu kooperieren. Diese Gleichstellung oder Äquidistanz ist strategisch eine Selbstfesselung und politisch ein Relikt. Sie hält einer nüchternen Betrachtung nicht mehr stand.

    Die Linke ist die Nachfolgepartei der WASG und der PDS, die aus der SED hervorging. Die SED-Diktatur ist seit 30 Jahren Geschichte und die Mehrheit der Linken in der Bundesrepublik angekommen. Wenn man die Verfassungsschutzberichte auf die Linke hin liest, werden die Passagen wie Jahresringe eines alten Baumes immer dünner.

    Die Linke war mal ein Fall für den Verfassungsschutz, sie ist es nicht mehr. Heute gilt das für einige Untergruppen. Die CDU ist päpstlicher als der Papst, als der Verfassungsschutz. Sie ist in der Rote-Socken-Kampagne stehen geblieben – in den 90ern.

    Kramp-Karrenbauer offenbart in Thüringen-Krise Schwächen

    Auch in der AfD gibt es moderate und extreme Kräfte. Aber über Björn Höcke, ihren führenden Mann im Freistaat, kann es kaum zwei Meinungen geben. Der Verfassungsschutz hat seine Organisation, den „Flügel“, im Visier, und nach einer Eilentscheidung des Verwaltungsgerichts Meiningen vom September 2019 darf der Mann als „Faschist“ bezeichnet werden.

    Höcke und Ramelow, Linke und AfD, da gibt es Unterschiede. Einige in der CDU wissen das. Ein Klärungsprozess wäre notwendig. Aber Parteichefin Annegret Kramp-Karrenbauer ist keine Entfesselungskünstlerin.

    Zu besichtigen ist seit Tagen eine Frau, die das Führungsamt bekleidet, aber nicht ausfüllt. Deswegen waren am Wochenende alle Augen auf Angela Merkel gerichtet.

    Es gibt formelle und informelle Vorsitzende. Joschka Fischer hat ohne Parteiamt den Kurs der Grünen bestimmt. Gleiches gilt gerade auch für die Kanzlerin. Bezeichnenderweise hat sie, nicht AKK, am Samstag Ramelow angerufen. Man muss mit den Linken reden, aber ja.