Berlin. In der Türkei könnte die drittgrößte Partei, die prokurdische HDP, verboten werden. Recep Tayyip Erdogan könnte davon profitieren.

Das vor fast drei Jahren eingeleitete Verbotsverfahren gegen die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) geht jetzt einer Entscheidung entgegen. In wenigen Wochen könnte das türkische Verfassungsgericht die Partei verbieten. Damit wäre Staatschef Recep Tayyip Erdogan rechtzeitig vor den Wahlen im Frühjahr einen gefährlichen Konkurrenten los.

Es ist ein langwieriges Verfahren, mit dem sich die 15 Richter des türkischen Verfassungsgerichts befassen. Seit dem 17. März 2021 brüten sie über einem Antrag der Generalstaatsanwaltschaft. Sie will ein Verbot der Kurdenpartei HDP erwirken, der drittgrößten Parlamentspartei. Die Ankläger werfen ihr „terroristische Aktivitäten“ vor. Nachdem das Verfahren lange auf der Stelle trat, soll es nun offenbar ganz schnell gehen.

Türkei: HDP droht Verbot

Am Dienstag begründete Generalstaatsanwalt Bekir Sahin in seinem Schlussplädoyer den Verbotsantrag. Die Beweisaufnahme habe gezeigt, dass die HDP die „unteilbare Integrität des Staates untergräbt“. Die Partei sei so etwas wie ein „Rekrutierungsbüro“ für die als Terrororganisation verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK. Über die „organischen Verbindungen“ der HDP zur PKK wisse „unsere ganze Gesellschaft Bescheid“.

Die Anwälte der HDP haben nur vier Wochen Zeit, ihr Plädoyer vorzubereiten. Danach dürfte schnell die Entscheidung fallen. Das Verfassungsgericht kann mit einer Zweidrittelmehrheit seiner 15 Mitglieder ein Verbot aussprechen. Die Anklage fordert auch ein Politikverbot für 451 Funktionäre der HDP. Tausende HDP-Politiker sitzen bereits in Haft, darunter der frühere Parteichef Selahattin Demirtas. Erst vergangene Woche hatte das Verfassungsgericht in einer Vorgriff auf ein Verbot die Bankkonten der Partei blockiert. Damit ist die HDP von der Parteienfinanzierung abgeschnitten. Kurz vor den Wahlen, die spätestens im Juni stattfinden müssen, war das ein schwerer Rückschlag für die HDP.

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HDP-Verbot wurde Erdogan in die Hände spielen

Ein Verbot der Partei würde Staatschef Erdogan in die Hände spielen. Die HDP kam bei der Wahl von 2018 auf knapp zwölf Prozent der Stimmen und stellt mit 56 Abgeordneten die zweitgrößte Oppositionsfraktion im Parlament. Der HDP war es gelungen, nicht nur kurdische Wähler zu mobilisieren, sondern auch die Stimmen linksliberaler Türkinnen und Türken zu gewinnen. Das macht die Partei für Erdogan besonders gefährlich.

Die kurdischen Wähler gelten bei den bevorstehenden Parlaments- und Präsidentschaftswahlen als „Zünglein an der Waage“: Ihr Stimmen könnten für Erdogan und seine islamisch-konservative AKP über Sieg oder Niederlage entscheiden. Der Staatschef und seine Partei stehen wegen der hohen Inflation, die immer mehr Familien in die Armut treibt, unter wachsendem Druck.

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Repressionen gegen HDP-Mitglieder

Die Repressionen gegen die HDP hatten schon lange vor dem Verbotsantrag begonnen. Nachdem bei den Kommunalwahlen 2019 in der Ost- und Südosttürkei 65 HDP-Politiker zu Bürgermeistern gewählt wurden, setzte das türkische Innenministerium 47 von ihnen wegen angeblicher Terrorvorwürfe ab und ernannte staatliche Zwangsverwalter. Im September 2020 begann eine landesweite Verhaftungswelle gegen HDP-Politiker.

Heute sitzen Tausende HDP-Funktionäre und Parteimitglieder in Haft, unter ihnen der frühere Vorsitzende Selahattin Demirtas. 2016 wurde Demirtas wegen des Vorwurfs der „Terrorpropaganda“ und „Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung“ festgenommen. 2018 verurteilte ihn ein Gericht wegen einer Rede, die er fünf Jahre zuvor beim kurdischen Neujahrsfest Newroz gehalten hatte, zu vier Jahren und acht Monaten Haft. Inzwischen kamen weitere dreieinhalb Jahre Haft wegen „Präsidentenbeleidigung“ hinzu.

Erdogans Kampf um den Machterhalt

Bei Erdogans Kampf um den Machterhalt spielt die türkische Justiz eine große Rolle. Am Mittwoch verurteilte ein Gericht die Präsidentin der türkischen Ärztekammer, Sebnem Korur Fincanci, wegen „Terrorpropaganda“ zu zwei Jahren und acht Monaten Haft. Fincanci ist eine Kritikerin Erdogans. Sie hatte sich dafür ausgesprochen, Vorwürfen nachzugehen, wonach die Armee Chemiewaffen gegen PKK-Rebellen eingesetzt haben soll.

Im Dezember verurteilte ein Gericht den Istanbuler Oberbürgermeister Ekrem Imamoglu, der als ein aussichtsreicher Herausforderer Erdogans bei der Präsidentenwahl gehandelt wurde, wegen „Beamtenbeleidigung“ zu zwei Jahren und sieben Monaten Haft. Wird das Urteil rechtskräftig, erhält Imamoglu ein Politikverbot und kann nicht gegen Erdogan antreten.

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