Berlin. Die Pipeline Nord Stream 1 wird gewartet. Was passiert, wenn Russland den Gashahn völlig zugedreht? Experten sehen einen Silberstreif.

Ab Ende August will Russland kein Gas mehr durch die Pipeline Nord Stream 1 liefern – wegen Wartungsarbeiten. Dauert der Stopp nur ein paar Tage oder länger? Kommt Deutschland trotz der Gaslücke über den Winter? Und wie sehr helfen Energieeinsparungen von Verbrauchern und Wirtschaft? Ein Überblick.

Wie voll sind derzeit die Gasspeicher in Deutschland?

Leichte Entspannung: Trotz erheblich gedrosselter Liefermengen aus Russland werden die deutschen Erdgasspeicher immer voller. „Wir sind bei den Speicherbefüllungen besser vorangekommen, als das Gesetz es vorschreibt, wir sind heute bei knapp 83 Prozent“, sagte Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) am Montag.

Bereits Anfang September werde der eigentlich erst für Anfang Oktober vorgeschriebene Wert von 85 Prozent erreicht. Das führe dazu, „dass wir nicht mehr für jeden Preis einkaufen werden. Dadurch werden sich die Märkte beruhigen und runtergehen“, so Habeck.

Seit der zweiten Märzhälfte steigt die Kurve in den Gasspeichern von einem Sockel von rund 25 Prozent kontinuierlich nach oben. Allerdings ist die Lage an einzelnen Orten unterschiedlich: So ist der größte Gasspeicher des Landes im niedersächsischen Rehden nur zu 63,41 Prozent gefüllt.

Normalerweise wird in den Sommermonaten mehr Gas importiert als verbraucht. In den Wintermonaten wird mehr Gas verbraucht als importiert. Kurz: Im Sommer werden die Speicher befüllt, im Winter entleert.

Wie lange würden zu 100 Prozent gefüllte Gasspeicher reichen?

Das Speichervolumen alleine kann Deutschland nach Angaben der Bundesregierung zwei bis drei durchschnittlich kalte Wintermonate mit Gas versorgen. An kalten Wintertagen werden bis zu 60 Prozent des Gasverbrauchs in Deutschland aus deutschen Speichern abgedeckt.

Plant Russland den totalen Gasliefer-Stopp?

Derzeit leitet Russland nur 20 Prozent der Maximalmenge durch die Ostsee-Pipeline Nord Stream 1. Moskau begründet dies mit einer nicht ordnungsgemäß gelieferten Turbine von Siemens Energy. Im Westen wird dies als vorgeschobenes Argument betrachtet. Zuletzt hatte Moskau angekündigt, die Gaslieferungen durch Nord Stream 1 vom 31. August bis zum 2. September wegen Wartungsarbeiten zu unterbrechen.

„Ob und wie lange ein möglicher Lieferstopp seitens Russlands andauern kann, ist nicht vorherzusagen, da nicht technische oder wirtschaftliche Gründe eine Rolle spielen, sondern politische“, sagte Claudia Kemfert vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin unserer Redaktion.

Wie viel Gas hat Deutschland bereits eingespart?

Insgesamt wurden in Deutschland im ersten Halbjahr 2022 knapp 15 Prozent weniger Erdgas verbraucht als im Vorjahreszeitraum. Das zeigen vorläufige Zahlen des Bundesverbandes für Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW).

Viele Gaskraftwerke - wie auch die Anlage im niedersächsischen Linden - drosseln ihren Betrieb in der Stromerzeugung.
Viele Gaskraftwerke - wie auch die Anlage im niedersächsischen Linden - drosseln ihren Betrieb in der Stromerzeugung. © dpa | Julian Stratenschulte

Ein Grund hierfür sei die deutlich mildere Witterung als im Frühjahr 2021, da Gas vorwiegend zum Heizen eingesetzt werde. Aber auch ohne Temperatureinflüsse habe der Erdgasverbrauch im ersten Halbjahr noch um rund acht Prozent unter dem Wert des ersten Halbjahres 2021 gelegen, erklärt der BDEW.

Nicht nur die Verbraucher, auch die Unternehmen drehten an der Einsparschraube. Der Erdgaskonsum von Industriekunden in Deutschland lag im Juli rund 21,3 Prozent unter dem Juli-Mittelwert der Jahre 2018 bis 2021, schreibt die Bundesnetzagentur. Im Juni habe der Wert 13,6 Prozent, im Mai 11,6 Prozent unter dem Vierjahresmittel gelegen. „Der Rückgang des Gasverbrauchs in der Industrie zeigt, dass wir es schaffen können, eine Gasnotlage abzuwenden“, sagte Behördenpräsident Klaus Müller.

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Kommt Deutschland auch ohne russisches Gas durch den Winter?

Claudia Kemfert vom DIW ist optimistisch: „Deutschland kann auch ohne russisches Gas über den Winter kommen, die Importabhängigkeit ist schon massiv gesunken. Wichtig ist allerdings, dass Deutschland mehr Gas einspart, der Gasverbrauch noch weiter zurückgeht. Die Wirtschaft hat den Gasverbrauch schon deutlich vermindert, jetzt geht es darum, dass auch private Haushalte möglichst viel Gas einsparen.“

Der Bezug von russischem Gas ist laut Wirtschaftsministerium bereits deutlich gesunken. Vor dem Ukraine-Krieg hatte Deutschland noch 55 Prozent seines Gasverbrauchs aus Russland bezogen. Im August sei die Quote auf neuneinhalb Prozent gesunken, sagte eine Sprecherin des Bundeswirtschaftsministeriums.

Aus welchen anderen Ländern importiert Deutschland Gas?

Laut Wirtschaftsministerium sind in den vergangenen Monaten die Gasimporte aus Norwegen und den Niederlanden sowie die Einfuhren von Flüssiggas deutlich gesteigert worden. Auch Belgien habe seit April die Gaseinspeisung erhöht. „Sollte Russland gar kein Gas mehr liefern, muss noch mehr Gas aus anderen Ländern importiert werden. Dies wird über Flüssiggaslieferungen über die neu installierten schwimmenden Flüssiggasterminals im Norden Deutschlands möglich sein“, unterstreicht Kemfert vom DIW.

Neue Bezugsquelle solle nun Frankreich werden, heißt es im Wirtschaftsministerium. Bislang hat Frankreich auch russisches Gas über Deutschland bezogen. Doch ab Herbst soll sich der Gasstrom umkehren, erklärte das Bundeswirtschaftsministerium. Auch Flüssiggasterminals in Frankreich könnten dabei genutzt werden. Die Bundesnetzagentur geht davon aus, dass bereits im Oktober Erdgas über Frankreich nach Deutschland fließen wird.

Dieser Text erschien zuerst auf morgenpost.de