Ottawa. Jahrzehntelang interessierte sich die deutsche Politik wenig für Kanada. Das ändert sich nun. Es geht um Sicherheit – und Geschäfte.

Der Bundeskanzler war schon fast euphorisch – zumindest für seine Verhältnisse. Hier hätten sich zwei Länder gefunden, „die gut zueinander passen“, schwärmte Olaf Scholz (SPD). Deutschland und Kanada verbinde viel. Sie teilten Ambitionen und Ziele, etwa beim Klimaschutz oder der Unterstützung der Ukraine gegen die russische Aggression. „Das ist eine gute Freundschaft zwischen unseren Ländern“, sagte Scholz.

Sieben Monate ist das her. Der Kanzler war da gerade mit Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) durch das Riesenland auf der anderen Seite des Atlantiks getourt und zog zum Abschluss seiner Reise Bilanz. Neben Scholz stand Kanadas Premierminister Justin Trudeau, auch er beschwor die engen Bande: Freunde könnten sich aufeinander verlassen und unterstützten sich gegenseitig, versprach er.

Bislang spielte Kanada für die deutsche Politik allenfalls eine untergeordnete Rolle. Wenn es um die transatlantischen Beziehungen ging, richteten sich die Blicke auf die Schutzmacht USA. Doch das ändert sich gerade gewaltig: Neuerdings können deutsche Minister und Abgeordnete gar nicht genug von Kanada bekommen. Eine rege Reisetätigkeit hat eingesetzt. Das Land mit knapp 40 Millionen Einwohnern ist Partner in Nato und G7, eine starke und liberale Demokratie. Es verfügt über jede Menge Rohstoffe, inklusive Öl und Gas. Und lernen kann man von ihm auch.

Ampel-Minister in Kanada: Land Beispiel für gelungene Einwanderungspolitik

Am Sonntag etwa brachen Bundesarbeitsminister Hubertus Heil und Innenministerin Nancy Faeser (beide SPD) in Richtung Ottawa auf. Sie wollen sich anschauen, wie die Kanadier das hinbekommen mit der Migration von Arbeitskräften und deren Integration. Kein Land der Welt hat – bezogen auf die Einwohnerzahl – eine stärkere Zuwanderung von Arbeits- und Fachkräften. Deutschland will ihm zumindest teilweise nacheifern.

„Kanada zeigt, wie erfolgreiche Einwanderungspolitik ein Gewinn für Gesellschaft, Wirtschaft und Zugewanderte sein kann“, sagte Heil vor seinem Abflug in Berlin. Auch der Innenausschuss des Bundestages informiert sich in den kommenden Tagen im Land über die kanadische Migrationspolitik. Die Europäische Union versucht ebenfalls, die Beziehungen auf eine neue Ebene zu hieven: Anfang des Monats war Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU) zu Gast bei Premier Trudeau – und erinnerte daran, dass Kanada über zahlreiche Rohstoffe verfügt, die Europa für seine Energie- und Verkehrswende braucht.

Hubertus Heil (SPD), Bundesminister für Arbeit und Soziales, geht an Bord einer Maschine, um nach Kanada zu reisen. Thema soll die Gewinnung von Fachkräften sein. Außerdem will sich der Minister über das kanadische Einwanderungsrecht informieren.
Hubertus Heil (SPD), Bundesminister für Arbeit und Soziales, geht an Bord einer Maschine, um nach Kanada zu reisen. Thema soll die Gewinnung von Fachkräften sein. Außerdem will sich der Minister über das kanadische Einwanderungsrecht informieren. © Britta Pedersen/dpa

Das neue Interesse ist eine Antwort auf die multiplen Krisen und Umbrüche in der Welt: Russlands Krieg in der Ukraine, der Kampf gegen den Klimawandel, Chinas Aufstieg und das Trauma namens Donald Trump haben dazu geführt, dass Deutschland gezielt darum bemüht, seine Verbindungen zu demokratischen Ländern jenseits der EU und der USA zu stärken.

Auch interessant: Unternehmen schlagen Alarm – Standort Deutschland fällt ab

Hinwendung zu Kanada hält auch CDU für richtig

Die Hinwendung zu Kanada begann noch auf den letzten Metern der alten Merkel-Regierung, die Ampelkoalition unter Scholz forciert jetzt diesen Kurs. Im Dezember ratifizierte Deutschland nach jahrelanger Debatte das europäisch-kanadische Freihandelsabkommen Ceta, um dem bilateralen Handel weiteren Schub zu verleihen. Seit 2017 ist Ceta vorläufig in Kraft.

Dabei ist die verstärkte Hinwendung zu Kanada keineswegs nur ein rot-grün-gelbes Projekt. Sondern eines, das auch die Christdemokraten für richtig halten. „Die Beziehungen zu Kanada sind etwas vernachlässigt worden in den vergangenen Jahrzehnten“, analysiert der CDU-Verteidigungspolitiker Henning Otte, der auch stellvertretender Vorsitzender der deutsch-kanadischen Parlamentariergruppe ist.

Otte ergänzt: „Wir müssen die transatlantischen Beziehungen insgesamt stärken. Und zwar in Richtung USA und Kanada. Nicht konkurrierend, sondern komplementär.“ Kanada sei seit jeher ein sehr zuverlässiger Nato-Partner. Das habe sich in der Vergangenheit unter anderem in Afghanistan gezeigt. Jetzt zeige es sich bei der Unterstützung der Ukraine mit der Präsenz an der Nato-Ostflanke in Lettland.

Kanada könnte für Deutschland ein attraktiver Handelspartner werden

Auch in den Wirtschaftsbeziehungen ist Luft nach oben. In der Rangliste der wichtigsten Handelspartner Deutschlands kam Kanada zuletzt gerade einmal auf Platz 30. Doch Kanada holt auf, das Ceta-Abkommen beflügelt den Handel. Auch Direktinvestitionen werden attraktiver.

Zwei Meldungen aus der vergangenen Woche illustrieren das: Volkswagen will sein erstes Batteriezellenwerk außerhalb Europas in der kanadischen Provinz Ontario errichten und von dort auch die USA mit den Komponenten für Elektroautos beliefern. Umgekehrt wurde bekannt, dass der kanadische Handelskonzern Couche-Tard sämtliche Tankstellen übernimmt, die der französische Energieriese Total Energies bislang in Deutschland und den Niederlanden betreibt.

Angesichts der von Berlin ausgerufenen „Zeitenwende“ werde politisch wie ökonomisch auf absehbare Zeit vermutlich die Energiepartnerschaft an erster Stelle stehen, sagt der Heidelberger Politikwissenschaftler und Kanada-Experte Martin Thunert. „Die energie- und klimapolitischen Prioritäten der Ampel-Regierung und der kanadischen Regierung decken sich sehr stark.“

Allerdings sei die Energiepolitik in Kanada weitgehend im Verantwortungsbereich der Provinzen angesiedelt, eine einheitliche kanadische Energiepolitik sei schwierig. Aber bei neuen, grünen Technologien wie Wasserstoff könne Kanada Deutschland vermutlich helfen – „nicht sofort, aber mittel- und langfristig“, sagt Thunert.

Man ahnt: Eine Kurzzeit-Beziehung soll die neue Liaison nicht werden. Sondern etwas, das auf Dauer hält. Und zwar auf allen Ebenen.