Berlin. In den ersten drei Monaten im Amt hat der neue ukrainische Präsident die festgefahrenen Fronten im Konflikt mit Russland gelockert.

Dieser Präsident ist anders. An der Frontlinie in der Ostukraine trägt Wolodymyr Selenskyj ein kurzärmeliges hellblaues Hemd, über das sich eine kugelsichere Weste spannt. Sein Vorgänger Petro Poroschenko liebte es, sich mit Helm und Uniform ablichten zu lassen. Bei Auftritten in der Öffentlichkeit wirft Selenskyj Zuschauern gern Luftküsschen zu oder verteilt High-fives. Nahbar will er sein, manchmal auch kumpelhaft. Das Staatsmännische, Steife geht ihm ab. Wo immer der oberste Repräsentant der Ukraine auftaucht, hat er zumindest ein paar komödiantische Momente. Seit drei Monaten ist er im Amt. Doch seine Vergangenheit als TV-Komiker kann er nie ganz abstreifen.

Auch im festgefahrenen Konflikt im Donbass sorgt der 41-Jährige für frischen Wind. „Mit Selenskyj kommt mehr Schwung und eine neue Dynamik in die starren Fronten“, heißt es unisono in Regierungskreisen zwischen Paris und Berlin.

Deutschland, Frankreich, die Ukraine und Russland versuchen seit Jahren, im sogenannten Normandie-Format eine diplomatische Lösung zu finden. In der nordfranzösischen Region trafen sich am 6. Juni 2014 zum 70. Jahrestag der alliierten Landung Kanzlerin Angela Merkel, der damalige ukrainische Präsidenten Petro Poroschenko, der russische Staatschef Wladimir Putin und Frankreichs damaliger Präsident François Hollande und sprachen auch über den gerade ausgebrochenen Ukraine-Konflikt.

Putin- Keine Alternative zu Normandie-Format für Ukraine

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    UN-Zahlen: 13.000 Tote wegen Ukraine-Konflikt

    Seit 2014 stehen sich im Osten des Landes ukrainische Truppen und prorussische Rebellen gegenüber. Entlang der rund 500 Kilometer langen Kontaktlinie sind die feindlichen Verbände an einigen Stellen weniger als 100 Meter voneinander entfernt. Die Gebiete Donezk und Luhansk werden von Moskau mit Geld, Waffen und Personal unterstützt. Rund 13.000 Menschen wurden nach UN-Angaben bislang getötet.

    „Selenskyj hat erste Schritte eingeleitet, die den Minsker Prozess belebt haben“, sagte Wilfried Jilge von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik in Berlin unserer Redaktion. „Im Ort Staniza Luhanska, dem einzigen Übergang der Region Luhansk, hat man sich zum Beispiel auf eine wichtige Entflechtung der Truppen geeinigt.“

    Die Entzerrung der Militärs ist einer der Kernpunkte des Minsker Abkommens vom Februar 2015. An den anderen Vereinbarungen – Abzug schwerer Waffen, Waffenstillstand und Kommunalwahlen in den Rebellengebieten – haben sich die Parteien bislang die Zähne ausgebissen. Die Entmilitarisierung in Staniza Luhanska kann nicht hoch genug bewertet werden. Das Dorf mit seinen 10.000 Einwohnern hielten die Regierungskräfte. Auf einem nahen Hügel saßen die Separatisten der Region Luhansk. Heute sind Gerät und Kämpfer weg.

    Selenskyj sendete Putin Versöhnungssignale

    Zudem hat sich Selenskyj bemüht, Versöhnungssignale Richtung Russlands Präsident Wladimir Putin zu senden. Im Wahlkampf hatte er angekündigt, alles für den Frieden zu tun und mit Moskau zu verhandeln. Auch versprach Selenskyj einen Gefangenenaustausch zwischen der Ukraine und den selbst erklärten Volksrepubliken im Osten.

    Beim Treffen der außenpolitischen Berater der Staats- und Regierungschefs von Deutschland, Frankreich, der Ukraine und Russland Anfang Juli stimmte zumindest die Atmosphäre. Der russische Außenminister Sergej Lawrow sprach später sogar von einem „Hoffnungsschimmer“.

    Diplomaten in Berlin und Paris mahnen weitere kleinere Fortschritte Selenskyjs an, um die Ukraine-Krise zu entkrampfen. Zum Beispiel könnte dieser den Zugang zu Renten und Sozialleistungen in den von Kiew­ kontrollierten Gebieten erleichtern, heißt es. Bislang sind die Bewohner in den Rebellengebieten praktisch eingeschlossen und können ihre Pensionsansprüche „draußen“ nur sehr schwer geltend machen – die bürokratischen Hürden sind hoch.

    Doch trotz einer leichten Verbesserung des Klimas: Bis zur Beendigung des Bürgerkriegs ist es noch ein langer Weg. Am 6. August wurden vier ukrainische Regierungssoldaten von Separatisten im Gebiet Donezk getötet. In Kiew saß der Schock über den erneuten Bruch der unbefristeten Waffenruhe tief.

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      Telefonat mit Putin über die Attacke der Rebellen

      Selenskyj telefonierte kurz danach mit Putin, der mittlerweile seit 20 Jahren im Kreml an der Macht ist. „Ich bitte Sie, auf die andere Seite einzuwirken, damit die Ermordung unserer Menschen beendet wird“, habe er gesagt, so der Präsident. Putin verlangte, dass die ukrainischen Truppen das Feuer einstellten. Moskau hat mit der Annexion der Halbinsel Krim im März 2014 einen der schwersten Konflikte seit Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa ausgelöst. Sanktionen der EU und der USA waren die Folge.

      Gegen die gut geölte Polit-Maschinerie Moskaus hat es der ukrainische Staatschef schwer. Sein Stab besteht zum großen Teil aus Neulingen, viele kommen von Selenskyjs TV-Produktionsfirma Kvartal 95. Dennoch haben die ersten Annäherungsgesten aus Kiew die Stimmung im Westen aufgehellt. In Berlin und Paris ist man optimistisch wie lange nicht. Ein Gipfeltreffen der vier Normandie-Länder im Herbst scheint möglich – das letzte fand 2016 statt.