Berlin. Vor allem in der Russland- und Chinapolitik gehen die Meinungen zwischen dem Kanzler und seiner Außenministerin deutlich auseinander.

Wer ist der oder die Erste? Wer prägt die Erzählung? Manchmal sind es die kleinen Signale, die Überraschungseffekte, die für die politische Botschaft sorgen. Kaum war Annalena Baerbock (Grüne) am 8. Dezember als Außenministerin vereidigt, brach sie zu Antrittsbesuchen nach Paris und Brüssel auf. Kurz darauf ging es nach Liverpool zum G7-Treffen der wichtigsten westlichen Industrieländer.

Die Nachricht: Deutschlands Chefdiplomatin ist in Aktion – noch bevor der neue Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) internationale Akzente setzen konnte. Baerbock, die erste Frau auf diesem Posten, verteilte Farbtupfer und grenzte sich gleich von ihrem relativ blassen Vorgänger Heiko Maas (SPD) ab.

An diesem Mittwoch reist sie zu einem eintägigen Blitztrip nach Washington, um mit ihrem US-Amtskollegen Antony Blinken zu sprechen. Sie schlägt wieder als Erste auf, vor Scholz. Hinzu kommt, dass sich die 41-jährige Ministerin die Abteilung internationaler Klimaschutz vom Umweltministerium geschnappt hat – eine Aufwertung des Auswärtigen Amtes.

Scholz bot Putin einen „konstruktiven Dialog“ an

Nicht allen in der Sozialdemokratie gefällt dieser Machtzuwachs. Deutsche Außenpolitik werde „insbesondere im Kanzleramt“ gesteuert, stichelte SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich. Kanzler Scholz bemüht sich zwar um das Image des Chef-Moderators in der Ampelkoalition, will aber trotzdem verstärkt seine Handschrift deutlich machen.

In dieser Woche treffen der Außenpolitik-Berater des Kanzlers, Jens Plötner, und dessen französischer Amtskollege ihre Gegenüber aus Russland und der Ukraine. Es ist ein Versuch zur Wiederbelebung des Normandie-Formats, in dem sich Deutschland und Frankreich um eine friedliche Lösung des Konflikts zwischen Moskau und Kiew bemühen.

Annalena Baerbock (Bündnis 90/Die Grünen), Außenministerin, und Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) verlassen gemeinsam die Sitzung des Bundestags. Thema ist die Regierungserklärung des Bundeskanzlers.
Annalena Baerbock (Bündnis 90/Die Grünen), Außenministerin, und Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) verlassen gemeinsam die Sitzung des Bundestags. Thema ist die Regierungserklärung des Bundeskanzlers. © picture alliance/dpa | Kay Nietfeld

Bald soll ein Antrittsbesuch von Scholz beim russischen Präsidenten Wladimir Putin folgen. In seiner ersten Regierungserklärung bot der Kanzler dem Kremlchef einen „konstruktiven Dialog“ an. Zugleich mahnte Scholz, die Verletzung der territorialen Integrität der Ukraine werde einen „hohen Preis“ haben.

Die Vermittlungsbemühungen des Kanzleramts führten zu Spekulationen, dass Scholz die Beziehungen zu Russland zur Chefsache mache – zulasten von Baerbock. In der SPD wird dieser Deutung widersprochen: „Scholz muss Russland nicht zur Chefsache machen, Russland ist immer Chefsache“, sagte der SPD-Außenpolitiker Nils Schmid unserer Redaktion.

Baerbock hatte im Bundestagswahlkampf viel schärfere Töne gegen Moskau angeschlagen. Das Erdgasprojekt Nord Stream 2 sei als fossile Energie das falsche Signal, argumentierte sie. Zudem gebe die Pipeline Russland einen zu großen geostrategischen Hebel, den Putin im Zweifelsfall gegen Europa nutzen könne.

Insbesondere müssten die Sicherheitsinteressen der Länder in Mittel- und Osteuropa ernst genommen werden, die sich durch Russland bedroht sehen. Mittlerweile hat die Außenministerin zwar ihre Kritik etwas heruntergedimmt. „Die rechtliche Prüfung liegt zum jetzigen Stand bei der Bundesnetzagentur“, betont sie.

Bei einem Punkt könnte es Streit zwischen Kanzler und Außenministerin

Gleichzeitig verweist sie auf die Absprachen zwischen US-Präsident Joe Biden und Kanzlerin Angela Merkel vom vergangenen Juli. Sollte Russland „Energie als Waffe“ einsetzen – also Gaslieferungen als Erpressungsmittel nutzen –, hätte dies „erhebliche Konsequenzen“. Scholz hat bislang Nord Steam 2 als „privatwirtschaftliches Vorhaben“ bezeichnet und vor einer Konfrontation mit Moskau zurückgescheut.

Bei diesem Punkt könnte es Streit zwischen dem Kanzler und der Außenministerin geben. Noch mehr Dissens liegt in der Luft, sollte Russland nach seiner massiven Truppenverstärkung an der Grenze in die Ukraine einmarschieren. Nord Stream 2 wäre dann aus Sicht Baerbocks nicht mehr zu halten, während sich Scholz hier bislang bedeckt hält.

Opposition kritisiert „tiefsitzende Meinungsverschiedenheiten“

Wie scharf ein mögliches Sanktionspaket gegen Moskau im Fall X aussehen sollte, ist eines der wichtigsten Themen beim USA-Trip der Ministerin. Die Amerikaner schätzen die harte Haltung des Gastes aus Deutschland. „Die entscheidende Frage für uns ist: Wie viel Spielraum lässt Scholz Baerbock?“, gibt ein US-Diplomat zu bedenken.

Die Opposition sieht im Umgang mit Russland Konfliktpotenzial für die Regierung. „Bereits nach wenigen Wochen zeigen sich Risse in der Außen- und Sicherheitspolitik der Ampelkoalition“, sagte Jürgen Hardt, der außenpolitische Sprecher der Unionsfraktion, unserer Redaktion. Die Haltung zu Nord Stream 2 offenbare „tiefsitzende Meinungsverschiedenheiten“.

Auch beim Verhältnis zu China ist die Intonierung unterschiedlich. Scholz unterstreicht zwar, dass Deutschland die Augen vor der kritischen Menschenrechtslage in der Volksrepublik nicht verschließen dürfe. Der Sozialdemokrat setzt jedoch trotz aller Differenzen wirtschaftlich wie politisch auf eine Zusammenarbeit mit der aufsteigenden Macht in Fernost.

Baerbock rügt hingegen Merkels Chinapolitik der leisen Töne, die auch von Scholz mitgetragen wurde. „Beredtes Schweigen ist auf Dauer keine Form von Diplomatie, auch wenn das in den letzten Jahren von manchen so gesehen wurde“, kritisiert sie. So fordert sie ein EU-Importverbot für Produkte aus Zwangsarbeit, etwa aus der autonomen chinesischen Provinz Xinjiang. In Washington bekommt Baerbock für ihren Kurs der klaren Kante Applaus.

Der Bewerber für den Grünen-Vorsitz, Omid Nouripour, warnt vor zu großer Abhängigkeit von Amerika. „Die Europäer müssen eine eigene Souveränität anstreben“, sagte Nouripour unserer Redaktion. „Es gibt Stimmen in den USA, die eine vollständige Entkopplung von China fordern. Das ist weder wünschenswert noch realistisch.“ Das werde Baerbock bei ihrem Besuch auch sagen.

Die europäischen Interessen seien nicht deckungsgleich mit denen der USA. „Trotzdem ist es von großer Bedeutung, eine Partnerschaft auf der Basis gemeinsamer Werte zu pflegen und zu vertiefen – und zwar unabhängig davon, wer gerade im Oval Office und im Kanzleramt sitzt.“