Berlin. Der neue Chef der Linkspartei, Martin Schirdewan, über die Sanktionen gegen Russland - und wie er jetzt die Verbraucher entlasten will.

Vor wenigen Tagen wurde der Europaabgeordnete Martin Schirdewan - neben Janine Wissler - zum Vorsitzenden der Linkspartei gewählt. Im Interview sagt er, was aus dem 9-Euro-Ticket werden soll.

Herr Schirdewan, wollen Sie, dass die Ukraine diesen Krieg gewinnt?

Martin Schirdewan: „Ich will, dass dieser Krieg mit internationaler diplomatischer Hilfe so schnell wie möglich beendet wird.“

Gebietsabtretungen an Russland eingeschlossen?

Schirdewan: „Ich will mir nicht anmaßen, der ukrainischen Regierung zu sagen, was sie zu tun hat. Mir geht es um einen lang andauernden Frieden für beide Seiten.“

Warum tut sich die Linke so schwer, den russischen Vernichtungskrieg zu verurteilen?

Schirdewan: „Wir haben auf unserem Parteitag den Beschluss gefasst, dass wir den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands ablehnen und unsere Solidarität der Ukraine gilt.“

Dem Beschluss ging ein quälender Streit voraus. Und Sie selbst haben im Europaparlament gegen eine Resolution gestimmt, die den russischen Überfall verurteilt.

Schirdewan: „Ich habe gegen eine Resolution gestimmt, die mehrere Teile hat. Den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg habe ich verurteilt. Aber die Resolution enthält auch einen Kurswechsel in der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik hin zu Militarisierung und Aufrüstung. Deswegen habe ich in einer Gewissensentscheidung dagegen gestimmt. Ich sehe die Europäische Union in der Verantwortung, eine Friedensmacht zu sein, die als diplomatischer und nicht als militärischer Akteur in Erscheinung tritt.“

Russland überfällt die Ukraine - und Sie träumen von der EU als Friedensmacht?

Schirdewan: „Der Weg aus diesem Krieg heraus wird nur über Diplomatie gelingen. Ich sehe keine militärische Lösung für den Konflikt.“

Sehen Sie denn eine juristische Aufarbeitung? Sollte Putin des Völkermords angeklagt werden?

Schirdewan: „Die Kriegsverbrechen, die offenbar hauptsächlich durch die russische Armee begangen werden, sind fürchterlich. Und die Soldaten, deren Verbrechen dokumentiert sind, müssen vor dem Internationalen Strafgerichtshof zur Rechenschaft gezogen werden.“

Putin selbst nicht?

Schirdewan: „Putin trägt die Verantwortung für diesen Krieg. Ob das ein Fall für den Internationalen Strafgerichtshof ist, müssen Juristinnen und Juristen entscheiden. Die konkreten Menschenrechtsverletzungen werden von den Soldaten vor Ort begangen.“

Wenn die Linkspartei an der Regierung wäre - wie würden Sie der Ukraine helfen?

„Wir bleiben dabei, dass wir Waffenlieferungen für den falschen Weg halten“: Schirdewan zum Krieg in der Ukraine.
„Wir bleiben dabei, dass wir Waffenlieferungen für den falschen Weg halten“: Schirdewan zum Krieg in der Ukraine. © FUNKE Foto Services | Maurizio Gambarini

Schirdewan: „Wir sind eben kein Teil der Bundesregierung. Unsere Positionen stimmen mit weiten Teilen der Bevölkerung überein. Wir unterstützen die Ukraine ökonomisch, indem wir uns für gezielte Sanktionen aussprechen gegen Putin und seinen Machtapparat. Wir unterstützen die Ukraine finanziell, indem wir uns für einen Schuldenschnitt einsetzen. Und wir unterstützen die Ukraine humanitär, indem wir die Geflüchteten in Deutschland und der Europäischen Union aufnehmen.“

Gegen Waffenlieferungen sperren Sie sich immer noch?

Schirdewan: „Wir bleiben dabei, dass wir Waffenlieferungen für den falschen Weg halten.“

Ohne Waffen aus dem Westen hätte Putin die Ukraine schon unterworfen.

Schirdewan: „Das ist Spekulation. Natürlich hat die Ukraine das Recht zur Selbstverteidigung und die ukrainische Armee leistet Beachtliches. Aber Fakt bleibt, dass dieser Krieg nicht militärisch entschieden wird.“

Teile Ihrer Partei möchten Putin noch weiter entgegenkommen und die Sanktionen lockern - damit Russland den Deutschen nicht das Gas abdreht. Ist das auch Ihre Logik?

Schirdewan: „Alle Politikerinnen und Politiker der Linken sind aufgefordert, unseren Parteitagsbeschluss zu vertreten: Wir fordern einen Energiepreisdeckel, aber nicht die Lockerung gezielter Sanktionen gegen Putins Machtapparat - und schon gar nicht die Inbetriebnahme von Nord Stream 2.“

Wie soll dieser Energiepreisdeckel funktionieren?

Schirdewan: „Wir wollen die Energiepreise deckeln, damit die Leute im nächsten Winter noch heizen und Fernsehen gucken können. Spanien und Portugal haben einen Höchstpreis definiert, mehr zahlen sie nicht. So werden die Preise für Versorger und Verbraucher stabil gehalten.“

Die Deutschen könnten auch sparen, indem sie ihren Energieverbrauch reduzieren.

Schirdewan: „Ich rate den Leuten, nicht auf die Verzichtspropaganda hereinzufallen. Es kann nicht darum gehen, weniger zu heizen oder kälter zu duschen. Wir brauchen eine gezielte Unterstützung einkommensschwacher Haushalte - mit einem sozialen Klimabonus von grundsätzlich 125 Euro im Monat, der für jedes weitere Haushaltsmitglied um 50 Euro aufgestockt wird.“

Wie wollen Sie das bezahlen?

Schirdewan: „Mit einer Übergewinnsteuer. Wir müssen bei den Ölmultis und Gaskonzernen die Krisenprofite abschöpfen. Das machen selbst neoliberale Länder wie Großbritannien. So können wir den Energiepreisdeckel und auch einen sozialen Klimabonus finanzieren.“

Was soll aus dem 9-Euro-Ticket werden?

Schirdewan: „Das 9-Euro-Ticket ist die einzige Maßnahme der Bundesregierung im Rahmen der Entlastungspakete, die positiv angenommen worden ist und zu einer spürbaren Entlastung der Bürger geführt hat. Das sollte man den Menschen nicht einfach wieder wegnehmen. Daher muss das 9-Euro-Ticket bis Jahresende verlängert werden. Für 2023 brauchen wir ein 1-Euro-Ticket pro Tag, also ein 365-Euro-Ticket für das ganze Jahr. Aber auch da können wir noch nicht stehen bleiben.“

Sondern?

Schirdewan: „Perspektivisch wollen wir einen kostenlosen Personennahverkehr. Wir brauchen eine echte Mobilitätswende.“

Und zwar wann?

Schirdewan: „Eher in drei als in fünf Jahren. Voraussetzung ist aber, dass es endlich einen massiven Ausbau der Schienenwege gibt und ausreichend Personal und Züge zur Verfügung stehen.“

Forderungen der Linken erfüllen sich selten - ist das ein Grund für Ihre Niederlagenserie bei den Wahlen?

Schirdewan: „Wir haben uns in der letzten Zeit sehr schwergetan, Wählerinnen und Wähler zu überzeugen. Mein Co-Vorsitzende Janine Wissler und ich haben uns vorgenommen, die Trendwende zu schaffen.“

Was macht das neue Führungsduo - mit Ihnen anstelle von Susanne Hennig-Wellsow - besser als das alte?

Schirdewan: „Wir wollen uns eng abstimmen mit den Landesverbänden und der Fraktionsspitze. Ziel muss sein, dass wir wieder mit einem einheitlichen Erscheinungsbild und klaren politischen Botschaften nach außen dringen.“

Sind Sie glücklich, dass Wissler an der Parteispitze geblieben ist? Es hat Vorwürfe sexueller Übergriffe in der Linkspartei gegeben, die vor allem Wisslers Landesverband in Hessen betreffen…

Schirdewan: „Ich bin der Linksjugend sehr dankbar, dass sie das Metoo-Thema so stark gemacht hat. Wir sind unserem Anspruch als feministische Partei in Teilen nicht gerecht geworden. Die Linke muss ein sicherer Platz für alle werden. Es kann keine Ausrede sein, dass patriarchale Strukturen in der Gesellschaft existieren, die sich auch bei uns widerspiegeln. Übergriffe in unserer Partei - das ist unverzeihlich. Unsere Aufgabe ist, Strukturen zu verändern und einen kulturellen Wandel herbeizuführen, damit das nicht mehr passiert.“

Sie sind lange in der Linkspartei. Ist Ihnen nichts aufgefallen?

Schirdewan: „Nein. Ich war erschüttert, als ich von den Vorwürfen erfahren habe. Jetzt geht es darum, alle Maßnahmen zu ergreifen und alle Konsequenzen zu ziehen, die nötig sind.“

Also welche?

Schirdewan: „Wir müssen dem Thema Sexismus mehr Aufmerksamkeit widmen. Es muss neue Bildungsstrukturen und Ansprechpartner für Betroffene geben. Ich möchte alle herzlich einladen, hier Vorschläge zu machen.“