Berlin. Die Familienministerin nennt Details der Kindergrundsicherung. Und sagt, wie sie Selbstständigen die Familiengründung erleichtern will.

Die Kindergrundsicherung soll der große Wurf der Koalition im Kampf gegen Kinderarmut werden. Im Interview erklärt Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne), wie Familien an das Geld kommen und wann es losgeht.

Erst die Pandemie, jetzt Krieg und Inflation. Wie geht es den Familien am Ende dieses Krisenjahres?

Lisa Paus: Die Krisen treffen Familien ganz besonders. Wir alle müssen damit fertig werden, dass es Krieg in Europa gibt. Aber Kinder und Jugendliche erleben das hautnah, wenn geflüchtete Kinder in ihre Kita oder Schule kommen oder sie die Bilder im Fernsehen oder in den sozialen Medien sehen. Das ist eine schwierige, unsichere Zeit, die uns alle vor große Herausforderungen stellt. Umso wichtiger ist es, dass die Bundesregierung mit den Entlastungspaketen und den Energiepreisbremsen die Menschen unterstützt, die jetzt besonders auf Hilfen angewiesen sind. Existenzielle Not darf nicht diesen Winter beherrschen. Einen Schwerpunkt haben wir deshalb auch auf Unterstützung für die Familien mit geringen Einkommen gelegt, die besonders unter den massiv gestiegenen Lebenshaltungskosten leiden. Ich glaube fest daran, dass Deutschland ein solidarisches Land ist. Wir müssen jetzt als Gesellschaft zusammenhalten.

Sind Kinder die Verlierer der Krise?

Corona hat bei Kindern und Jugendlichen besonders starke Spuren hinterlassen. Der Krieg und seine Folgen kommen jetzt noch oben drauf. Wir beobachten eine Zunahme von Essstörungen, Depressionen und anderen psychischen Erkrankungen. Kinder und Jugendliche haben sich in der Pandemie sehr solidarisch gezeigt mit Eltern und Großeltern - und sind mit den Folgen allzu oft alleine gelassen worden. Sie haben den Eindruck, dass sich die Gesellschaft für ihre Situation nicht wirklich interessiert. Daher will ich jungen Menschen dringend mehr Gehör verschaffen.

Gehör verschaffen – das sagt sich leicht.

Ich halte es für notwendig, Jugendliche stärker an politischen Entscheidungen zu beteiligen. Das Wahlalter 16 bei der Europawahl ist ein wichtiges Signal, aber wir sollten da nicht stehen bleiben. Das Wahlalter sollte auch bei der Bundestagswahl auf 16 gesenkt werden, auch damit die Belange und Bedürfnisse der jungen Generation grundsätzlich beachtet und bei politischen Entscheidungen von Anfang an mitgedacht werden. Um jungen Menschen mehr Gehör zu verschaffen, habe ich auch das Bündnis für die junge Generation ins Leben gerufen. Schon mehr als 130 Persönlichkeiten aus der Politik, aber auch aus Wirtschaft und Wissenschaft, Gesellschaft und Kultur oder Gesundheit und Sport haben sich verpflichtet, in eigenen Projekten die Anliegen und Sorgen junger Menschen mitzudenken und sie an aktuellen Vorhaben in ihren Bereichen mehr zu beteiligen.

In diesem Winter leiden viele Kinder nicht nur psychisch, sondern auch an schweren Atemwegserkrankungen - und es fehlt an Medikamenten, Terminen beim Arzt und auch an Betten in den Krankenhäusern. Wie kann das sein?

Die Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen sind viel zu lange unter dem Radar gewesen. Jetzt wird die strukturelle Unterfinanzierung und Unterbesetzung in den Kinderkliniken, bei den niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten und in der Medikamentenversorgung deutlich. Diese politischen Versäumnisse der Vergangenheit kann man nicht kurzfristig heilen …

… also was tun?

Kinder und Jugendliche müssen jetzt schnell die medizinische Versorgung bekommen, die sie brauchen. Der Gesundheitsminister hat dazu die Preisregeln bei Arzneien für Kinder gelockert. Apotheken haben die Möglichkeit, Hustensaft und andere Arzneien selbst herzustellen. Jetzt ist unkonventionelles Handeln gefragt.

Sie bereiten eine neue Sozialreform vor: die Kindergrundsicherung. Wie wirkt sich das auf das Leben der Familien aus?

Die Kinderarmut hat sich in der Krise weiter verschärft, die Schere geht noch stärker auseinander. Das raubt Lebenschancen und ist schlichtweg nicht fair. Die Kinder können nichts dafür. Die Kindergrundsicherung kann hier ein wirklicher Paradigmenwechsel sein. Sie ist das wichtigste sozialpolitische Vorhaben dieser Bundesregierung. Hierfür wollen wir einen Kindergrundsicherungs-Check einführen. Familien, deren Einkommen eine bestimmte Grenze unterschreitet, sollen über die Finanzbehörden gezielt angesprochen werden. Die Beantragung der Leistung soll dann bequem online über ein Kindergrundsicherungs-Portal abgewickelt werden. Wir wollen erreichen, dass die Leistungen, die Kindern zustehen, auch wirklich bei den Familien ankommen. Deshalb wird die Auszahlung so unbürokratisch und digital wie möglich gestaltet. Wir wollen, dass Familien dem Geld nicht hinterherlaufen müssen. Es wird dann nur noch eine zuständige Stelle geben, die die Leistungen auszahlt: Dazu zählen ein Garantiebetrag, den alle Eltern unabhängig von ihrem Einkommen beziehen, und ein einkommensabhängiger Zusatzbetrag.

Wann ist es so weit?

Anfang des kommenden Jahres werde ich Eckpunkte vorlegen. Nach der Sommerpause folgt der Gesetzentwurf. 2025 wird die Kindergrundsicherung dann ausgezahlt.

In welcher Größenordnung?

Das werden wir als letztes festlegen. Ich gehe nicht davon aus, dass die Inflation so hoch bleibt wie jetzt. Dennoch ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, absolute Zahlen zu diskutieren.

Ist für die Kindergrundsicherung noch Geld da, wenn hunderte Milliarden für Entlastungspakete und Rüstungsprojekte ausgegeben werden?

Die Ampel hat sich im Koalitionsvertrag auf dieses wichtige sozialpolitische Projekt verpflichtet. Der Bundeskanzler steht voll dahinter. Und meine Gespräche zeigen mir, dass auch alle beteiligten Ministerien die Kindergrundsicherung wollen.

Gibt es mehr Geld für jedes Kind?

Wir müssen uns gezielt darum kümmern, dass die Familien mit wenig Einkommen mehr Geld für ihre Kinder bekommen. Gut situierte Familien dagegen brauchen keine höheren Leistungen.

Halten die Kitas, auf die sich viele Familien verlassen, der Krise stand?

Wir haben Fachkräftemangel und einen hohen Krankenstand. Mit dem Kita-Qualitätsgesetz unterstützen wir die Länder gezielt, auch damit sie neue, zusätzliche Fachkräfte anwerben können.

In Kitas und Krippen gibt es einen drastischen Anstieg von Gewaltfällen,

das zeigt eine Umfrage in Bayern. Wie gehen Sie damit um?

Das ist verheerend. Ich möchte alle Eltern ermutigen, solche Vorfälle der Polizei zu melden. Gewalt in Kitas darf es nicht geben - auch wenn Überforderung der Grund ist. Die Untersuchung zeigt, wie wichtig es ist, gut ausgebildete Erzieherinnen und Erzieher zu haben.

Manche Bundesländer setzen Teilzeit-Kräfte ein, die keine erzieherische Ausbildung haben. Ein guter Weg, dem Personalmangel zu begegnen?

Hilfskräfte ohne Fachausbildung zu beschäftigen, ist keine Antwort auf die Knappheit beim Personal. Der Umgang mit Kindern ist eine große Verantwortung und eine wichtige pädagogische Aufgabe, dafür braucht es Fachwissen und Erfahrung.

Sie wollen einen Vaterschaftsurlaub einführen. Was versprechen Sie sich davon?

Wir wollen erreichen, dass Partner oder Partnerinnen nicht mehr regulären Urlaub nehmen, müssen, wenn sie nach der Geburt für ihr Kind da sein wollen. Die ersten zwei Wochen sind von größter Bedeutung für das Neugeborene und die Eltern. Und die Freistellung unterstützt Eltern in ihrem Wunsch nach partnerschaftlicher Aufgabenteilung. Es ist sinnvoll, diese Freistellung im Mutterschutz zu regeln – finanziert aus einem Fonds beim Bundesgesundheitsministerium, der von den Arbeitgebern gespeist wird.

Wann kommt dieser Anspruch?

Wir peilen den 1. Januar 2024 an. Wir wollen das mit einem größeren Vorlauf machen, damit sich alle darauf einstellen können. Für kleine und mittlere Unternehmen sind solche Freistellungen gerade in der Krise nicht ganz einfach.

Was soll für Selbstständige gelten?

Wir sind gerade dabei, uns das Thema Mutterschutz für Selbstständige noch einmal genau anzuschauen.

Wofür setzen Sie sich ein?

Gleichbehandlung zwischen Selbstständigen und Angestellten ist nicht ganz einfach. Aber es muss auch Selbstständigen möglich sein, ohne zu hohe Hürden eine Familie gründen zu können. Daher sollten wir auch die Freistellung für Selbstständige ermöglichen.

Vaterschaftsurlaub - finden Sie diesen Begriff gelungen?

Als ich geboren wurde, hatte mein Vater regulären Urlaub genommen. Das machen auch jetzt noch viele Väter. Die ersten zwei Wochen mit einem Baby sind aber alles andere als Urlaub. Das Wort Vaterschaftsurlaub ist aber auch deshalb nicht passend, weil Kinder heute in vielfältigen Partnerschaften und Lebensgemeinschaften groß werden und es nicht nur Väter sind, die freinehmen, sondern zum Beispiel auch die Lebenspartnerin der Mutter.