Berlin . Kreml-Chef Putin soll Gesprächspartner belogen und bedroht haben. Was Boris Johnson, Macron und Olaf Scholz offenbar erleben mussten.

Einschüchterungsversuche gehören zum Repertoire von Kremlchef Wladimir Putin. Einschließlich Drohungen. Unverblümt, direkt, persönlich. So hat es der frühere britische Premier Boris Johnson in Erinnerung, wie er in einer BBC-Dokumentation erzählt. Sie wird an diesem Montagabend in Großbritannien ausgestrahlt.

Die Schilderung ist glaubhaft. Nicht anders erging es wohl Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD). "In den ersten Monaten des Krieges hat Wladimir Putin Scholz richtig gedroht, dass Russland Deutschland angreifen könnte, wenn es Waffen an die Ukraine liefert", erzählte der Journalist und Dokumentarfilmer Stephan Lamby, der einen Film über die Ampel drehte, im „Scholz-Update“.

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Den bedrohlichen Ton haben die Russen bis heute beibehalten. Ex-Präsident und Putin-Vertrauter Dimitri Medwedew schrieb nach der Entscheidung des Westens, der Ukraine mit Kampfpanzern zu helfen, im Kurznachrichtendienst Telegram: "Erstens, die Verteidigung der Ukraine, die niemand in Europa braucht, wird die heruntergekommene alte Welt nicht vor Vergeltung schützen, falls etwas passieren sollte“. Zweitens, sollte der Dritte Weltkrieg beginnen, "dann wird er nicht von Panzern und nicht einmal Kämpfern ausgetragen, sondern dann wird sicherlich alles in Ruinen stehen“. Auch interessant: Leopard-Lieferung: Warum jede "rote Linie" übertreten wird

Putin: Wie er Macron hinhielt und nicht ernst nahm

Moskau, Februar 2022: Kurz vor Ausbruch des Ukraine-Krieges versucht ein westlicher Staats- und Regierungschef nach dem anderen, Putin von seinem Plan abzubringen und doch noch zu Verhandlungen zu bewegen; sei es in Moskau, sei es wie Johnson am Telefon.

Johnson kann sich noch genau an Putins "sehr entspannten Tonfall" erinnern. Daran und an der Gelassenheit des Mannes in Moskau erkannte der Brite, dass die vielen Beschwichtigungsversuche politisch einkalkuliert waren. Putin hatte mit ihnen gerechnet und "einfach mit meinen Versuchen gespielt, ihn zum Verhandeln zu bewegen“, so Johnson.

Dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron erging es nicht besser. Unter Bruch des "diplomatischen Geheimnisses“ stellte Macron dem Journalisten Guy Lagache ein Videomitschnitt eines Gespräches mit Putin zur Verfügung, das am 20. Februar 2022 stattfand – vier Tage vor Kriegsausbruch in der Ukraine. Macron wollte den Kremlchef von einem Gipfeltreffen überzeugen – ein "Last-Minute"-Versuch der Krisendiplomatie.

Putin zu Johnson: "Mit einer Rakete würde es nur eine Minute dauern"

Es war damals pure Zeitverschwendung. "Um dir nichts zu verheimlichen – ich wollte gerade Eishockey spielen gehen. Ich telefoniere mit dir aus der Sporthalle“, sagt Putin, Macron setzt nach: "Sobald etwas läuft, rufst du mich an.“ Putin antwortet sarkastisch auf Französisch: "Ich danke Ihnen, Monsieur le Président.“

Bei Johnson redet Putin nicht drum herum. "Er hat mir irgendwann gedroht und gesagt: ‚Boris, ich möchte dich nicht verletzen, aber mit einer Rakete würde es nur eine Minute dauern‘ oder so ähnlich". Nicht ganz.

Putin: Ein Ganove im Politikerkostüm?

Zuletzt präzisierte der stellvertretende Vorsitzende des russischen Verteidigungsausschusses, Aleksey Zhuravlyov, im russischen Staatsfernsehen bei Russia 1, die Atomrakete RS-28-Sarmat wäre in der Lage, Großbritannien innerhalb von "200 Sekunden“ zu treffen.

Johnson bezeichnet den langen Anruf laut BBC als "außergewöhnlich", weil der Ton einerseits so bedrohlich, andererseits "sehr vertraulich" gewesen sei. Johnson hatte dem Kremlchef damals Anfang Februar klargemacht, "dass ein Einmarsch in die Ukraine zu westlichen Sanktionen und mehr Nato-Truppen an Russlands Grenzen führen würde." Und so ist es dann auch gekommen.

Johnson entsandte noch einmal seinen Außenminister Ben Wallace nach Moskau, der sein Gespräch mit Putin in der BBC als "Demonstration von Mobbing oder Stärke" beschreibt. Motto: "Ich werde Dich anlügen, Du weißt, dass ich lüge, und ich weiß, dass Du weißt, dass ich lüge, und ich werde Dich immer noch anlügen." Wallace denkt, "es ging darum, zu sagen, ich bin mächtig."

Für Johnson ist Putins Auftreten "ein perfektes Beispiel für toxische Männlichkeit". Im ZDF sagte er im Sommer 2022, "wenn Putin eine Frau wäre, so hätte er, glaube ich, nicht einen so verrückten, machohaften Krieg vom Zaun gebrochen".

Es gibt noch eine andere Erklärung für Putins Verhalten – weniger schmeichelhaft. Für François Bonnet, Mitgründer und langjähriger Chefredakteur des Investigationsblattes "Revue du Crieur“, einem Printmagazin der französischen Internetzeitung "Mediapart“, ist Putin kein Staatsmann, der umstrittene politische Ziele verfolgt, sondern der Chef einer kriminellen "Familie“, für die Krieg ein Mittel bilde, das eigene Dasein und den Fortbestand des durch sie geschaffenen und gelenkten Systems zu sichern.

Seit einem Vierteljahrhundert weigerten sich westliche Verantwortliche anzuerkennen, dass Putin ein Krimineller im Politiker-Kostüm sei, kein Präsident mit Verbindungen zur Welt des Verbrechens. "Korruption, Morde, Einkerkerungen, phänomenale Bereicherungen, die ökonomische Ausbeutung des Landes“, so Bonnet, "werden seit je als Kollateralschäden, als bloße Nebenwirkungen angesehen, die ein von der Rohstoff-Rente lebendes autoritäres Regime hervorbringt." Putin, bloß ein Ganove?

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