Cherson/Berlin. Ukrainische Truppen nähern sich der besetzten Stadt – hunderttausende Zivilisten werden evakuiert. Putins General bläst zum Rückzug.

Der General klang ungewohnt düster. „An diesem Frontabschnitt ist die Lage schwierig“, erklärte der neue Oberbefehlshaber der russischen Truppen in der Ukraine, Sergej Surowikin, am Dienstagabend im Fernsehen. Der 56-Jährige redete von der im Süden gelegenen Gebietshauptstadt Cherson, die bereits im März von den Russen eingenommen worden war und als Symbol für den schnellen Vormarsch der Russen galt. Die Ukraine beschieße Wohnhäuser und die Infrastruktur der Stadt, so Surowikin.

Nun könnten „schwierige Entscheidungen“ notwendig sein, fügte der Militär hinzu. Der ungewöhnliche Auftritt des Generals legte sogar nahe, dass die russischen Truppen einen Rückzug aus der Stadt erwägen könnten.

Vor knapp zwei Wochen war Surowikin von Präsident Wladimir Putin zum Kommandeur für die Ukraine ernannt worden. Der hochdekorierte Offizier, der für seine brutale Bombardierung ziviler Ziele bei Einsätzen in Tschetschenien und Syrien berüchtigt war, sollte dem ins Stocken geratenen Feldzug der Russen eine neue Dynamik verleihen.

Experten: Russen kommunizieren inzwischen offener

„Die Einschätzung des Oberkommandierenden Surowikin ist ein Eingeständnis, dass Russland die Stadt Cherson tatsächlich verlieren kann. Die Russen sind offensichtlich realistischer geworden und kommunizieren offener als in der Vergangenheit“, sagte Stefan Meister von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) unserer Redaktion.

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Surowikins Aussagen sind aber noch in anderer Hinsicht bedeutsam. Zum ersten Mal wendet sich ein Vertreter der Generalität direkt an das Publikum. „Allein dass das Interview mit Surowikin stattfand, ist ein Ereignis. Die Armee hat zu sprechen begonnen, sie hat ein Gesicht bekommen und ist in gewisser Weise zum Subjekt geworden“, erläutert die Politik-Analystin Tatjana Stanowaja von der Denkfabrik Carnegie Moscow Center.

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Russisches Militär: Bislang lauschten die Generäle den Befehlen von Putin

Bislang waren die Spitzenrepräsentanten des Militärs schweigende Ausführende. Generalstabschef Walerij Gerassimow und Verteidigungsminister Sergej Schoigu saßen am langen Tisch im Kreml und lauschten den Befehlen von Putin. Niederlagen wurden schöngeredet und in Siege uminterpretiert.

Nun müssen sich die russischen Truppen in der Defensive üben. Die Ukrainer hätten im Gebiet Cherson mit Gegenangriffen begonnen, betonte der Vize-Vorsitzende der Chersoner Besatzungsverwaltung, Kirill Stremoussow. Die ukrainische Armee habe Zehntausende Soldaten an der Front zusammengezogen.

Cherson: 50.000 bis 60.000 Zivilisten sollen evakuiert werden

Der Chef der Besatzungsverwaltung, Wladimir Saldo, kündigte an, dass „etwa 50.000 bis 60.000“ Zivilisten auf das linke Ufer oder nach Russland gebracht werden sollten. Auch die Besatzungsverwaltung sollte auf das linke Ufer des Flusses Dnipro verlagert werden, so Saldo.

Auf dem Weg zur Front: Russische Rekruten gehen auf einem Bahnhof in Prudboi in der Region Wolgograd zum Zug. Sie wurden im Zuge der Teilmobilmachung einberufen.
Auf dem Weg zur Front: Russische Rekruten gehen auf einem Bahnhof in Prudboi in der Region Wolgograd zum Zug. Sie wurden im Zuge der Teilmobilmachung einberufen. © dpa | Uncredited

Militärexperten räumen den Ukrainer gute Chancen ein, die strategisch wichtige Stadt Cherson einzunehmen. „Sie verfügen über die notwendigen Truppen, um die Stadt zu erobern. Die Russen haben derzeit weder die Manpower noch die Waffen und die Logistik, um den Ukrainern ernsthaft etwas entgegensetzen zu können“, resümiert Meister.

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Lage in Cherson: „Den Behörden geht der Arsch auf Grundeis“

Einwohner aus Cherson kommentierten die Lage mit Sarkasmus. „Die russische Armee ging bei Cherson in die Falle. Die Soldaten erleben jeden Tag eine Niederlage“, sagte der aus Cherson stammende Geschäftsmann Petr Zenenko unserer Redaktion. „Die russische Militärführung versteht wahrscheinlich, dass die Situation nicht gedreht werden kann.“

Den Behörden, die versuchten, Zivilisten in Sicherheit zu bringen, „geht der Arsch auf Grundeis“, feixte Zenenko, der heute in Kiew lebt. In der Region Cherson werden die von Russland eingesetzten Verwaltungschefs oft als „Gauleiter“ verspottet.

Putin: Kremlherrscher verhängt in vier annektierten Gebieten den Kriegszustand

Der Kreml rief die Alarmstufe aus. Präsident Putin verhängte in vier kürzlich annektierten ukrainischen Gebieten den Kriegszustand – darunter auch in der Region Cherson. Ein entsprechendes Dekret habe er bereits unterschrieben, gab Putin am Mittwoch bekannt.

Damit gehen erweiterte Machtbefugnisse für die russischen Besatzungsverwaltungen in den Gebieten Luhansk, Donezk, Cherson und Saporischschja einher. Außerdem können Bewohner nun zur Arbeit in der Rüstungsindustrie gezwungen oder an Reisen gehindert werden. Möglich sind dem Dekret zufolge jetzt auch offiziell die Einführung von Militärzensur oder das Abhören privater Telefongespräche.

„Durch die Einnahme von Cherson könnte die Ukraine die Krim mit Raketen attackieren“

Bringt der ukrainische Vormarsch eine Vorentscheidung? Immerhin gelang den Ukrainern vor Wochen die spektakuläre Rückeroberung der Industrie-Metropole Charkiw im Osten des Landes. Doch Sicherheitsexperten wollen nicht so weit gehen. „Die Einnahme der Stadt Cherson durch die Ukrainer wäre noch keine Wende im Krieg. Putin bereitet sich gerade auf einen längeren Krieg vor. Er wird seine Truppen umgruppieren und einzelne Operationen vielleicht verlangsamen“, meint Stefan Meister von der DGAP.

Eine Rückeroberung der Krim hält Meister zumindest derzeit für wenig wahrscheinlich. „Dafür haben die Ukrainer nicht genügend Truppen. Sie verzeichnen zu hohe Verluste. Auf der Krim ist zudem die russische Schwarzmeerflotte stationiert. Sie ist für Russland militärisches Kerngebiet.“

Die Kontrolle über Cherson wäre trotzdem ein Etappensieg für die Regierung in Kiew. „Eine Einnahme der Stadt durch die Ukrainer brächte mehr Sicherheit für Odessa und die Schwarzmeerküste. Und es würde die Ukraine in die Lage versetzen, die Krim mit Raketen zu attackieren“, urteilt Meister.

Ukraine-Krieg – Hintergründe und Erklärungen zum Konflikt

Dieser Artikel erschien zuerst auf morgenpost.de.