Berlin. In der Ostukraine drohen Schlachten wie im Zweiten Weltkrieg. Ein schneller Erfolg der russischen Offensive ist aber unwahrscheinlich.
Mit der russischen Großoffensive in der Ostukraine hat die zweite Phase des Angriffskriegs begonnen, sie wird den Charakter der Kämpfe deutlich ändern. Es könnte noch brutaler zugehen als bisher: „Die Schlacht um den Donbass wird an den Zweiten Weltkrieg erinnern“, prophezeit der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba. Umfassende Panzergefechte, schwerste Luftangriffe: Der Gouverneur der Region Luhansk, Serhij Hajdaj, befürchtet, dass viele Städte vollständig zerstört werden. „Es ist die Hölle“, erklärte der Gouverneur gleich nach dem Beginn der heftigen Kämpfe.
Das Ziel Moskaus ist klar: Der russische Präsident Wladimir Putin braucht nach dem gescheiterten Angriff auf Kiew und dem Rückzug aus dem Norden der Ukraine dringend einen militärischen Erfolg. Deshalb soll sich die Armee jetzt auf die „Befreiung“ des Donbass konzentrieren – die russisch besetzten Gebiete sollen deutlich über die selbst ernannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk hinausgehen, mit der Einnahme von Mariupol hätte Russland zudem auch einen südlichen Korridor zu der seit 2014 besetzen Krim. Allerdings gibt es auf ukrainischer Seite Befürchtungen, dass die russische Armee danach versuchen wird, weitere Gebiete des Landes zu besetzen.
Ukraine-Krieg: Russland rekrutiert tausende Kämpfer aus Syrien für Großoffensive
Für die neue Großoffensive hat die russische Armee in den vergangenen Wochen in großem Umfang Truppen verlegt – auch Einheiten, die bisher noch nicht am Krieg beteiligt waren. Nach Angaben westlicher Militärexperten stehen 60.000 bis 70.000 russische Soldaten in der Ukraine, konzentriert auf den Osten und Süden des Landes – bis zu 10.000 Soldaten sind in den letzten Tagen noch im Osten zusammengezogen worden, einige Einheiten wurden neu zusammengestellt. Sollte Mariupol in den nächsten Tagen fallen, stehen Russland dann die bislang dort eingesetzten rund 10.000 Soldaten für die Offensive zur Verfügung. Lesen Sie auch: Ukraine-Krieg: Wer liefert die Waffen gegen Putins Armee?
Außerdem hat Russland versucht, weitere ausländische Kämpfer für die Offensive zu rekrutieren, etwa aus Syrien – angeblich wird in Moskau mit bis zu 16.000 solcher Kämpfer gerechnet, zitiert das US-Verteidigungsministerium Angaben aus Russland. Nach früheren Geheimdienstberichten sind auch Söldner der als besonders brutal berüchtigten Gruppe Wagner in die Region geflogen worden. Die russische Armee hat zusätzliche schwere Artillerie und Luftunterstützung in Frontnähe verlegt. Offenbar ist die Verstärkung der Versuch, die Probleme zu vermeiden, die die russische Armee beim ersten Angriff auf Kiew erlebt hatte, als es unter anderem an raschem Nachschub mangelte.
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Experten: Schneller Erfolg der russischen Offensive sehr unwahrscheinlich
Dabei kommt den Streitkräften zugute, dass das Einsatzgebiet jetzt kleiner ist als im Norden und aus Russland besser erreichbar. „Es scheint, dass sie versuchen, aus ihren Fehlern zu lernen“, sagt der Sprecher des Pentagon, John Kirby. Aber das gelinge nur zum Teil: Die russische Armee kämpfe noch immer mit Problemen bei Logistik, Nachschub, dem Verbund von Luft- und Bodenoperationen, analysiert das US-Verteidigungsministerium. Und auch nach der Ernennung des Generals Alexander Dwornikow Oberfehlsbehaber der russischen Streitkräfte in der Ukraine gebe es weiter Kommandoprobleme.
Zu einem ähnlichen Ergebnis kommen unabhängige Militäranalysten des Washingtoner Institute for the Study of War (Institut für Kriegsstudien). „Durch die schwere Artillerie und die Überzahl der Soldaten könnten die Angreifer voraussichtlich Bodengewinne erzielen“, heißt es einer aktuellen Analyse. Dies werde einen hohen Preis erfordern, also erhebliche Verluste auch auf russischer Seite. Und: „Ein schneller und dramatischer Erfolg der russischen Offensive bleibt aber sehr unwahrscheinlich“, so die Analyse weiter.
Kampfkraft und Moral der russischen Truppen sind geschwächt
Dazu trage auch bei, dass die Kampfkraft der aus dem Norden in den Osten verlegten Truppen geschwächt sei, die Moral der Soldaten habe gelitten. Der ukrainische Geheimdienst berichtet von zunehmenden Befehlsverweigerungen in der russischen Armee, angeblich werden deshalb nun auch schon die Familien eingesetzter Soldaten unter Druck gesetzt. Die ukrainische Armee ist zumindest gut vorbereitet auf die Abwehr der Offensive.
Sie kennt das Gebiet, schließlich wird in der Ostukraine schon seit acht Jahren gekämpft. Die Truppen hier haben entsprechend starke Kampferfahrung, die Stellungen sind gut befestigt. Versuche der russischen Armee, die ukrainischen Kräfte durch Vorstöße aus dem Norden und Süden einzukesseln, sind bislang gescheitert. Es gebe Hinweise, dass die ukrainische Armee im Osten jetzt nicht nur Städte verteidige, sondern auch bereits einige bisher prorussisch verwaltete Städte im Donbas eingenommen habe, heißt es in Washington.
Erwartet wird nun, dass sich die Kämpfe trotz der zahlenmäßig starken Überlegenheit der russischen Armee lange hinziehen könnten. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj erklärt, die Ukraine werde sich selbst verteidigen, wie viele Soldaten Russland auch immer entsenden werde. Die Aussicht auf eine lange Auseinandersetzung ist der Grund, warum die ukrainische Regierung bei westlichen Staaten so auf die Lieferung schwerer Waffen drängt, auch wenn Panzer und Haubitzen nicht von heute auf morgen in der Ukraine einsatzbereit wären.
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Ein russischer Kriegs-Erfolg bis zum 9. Mai ist unrealistisch
Das heißt aber auch, dass ein vermeintliches Kalkül Putins kaum realistisch ist: Dass der Kremlherrscher bereits am 9. Mai, wenn in Moskau wie jedes Jahr der Sieg über Nazi-Deutschland im Zweiten Weltkrieg 1945 gefeiert wird, einen großen Sieg in der Ukraine verkünden kann, ist unwahrscheinlich. Der amerikanische Militäranalyst Michael Kofman bezweifelt, dass Putin es überhaupt auf einen solchen schnellen Durchbruch angelegt hat. Wenn man sich den Verlauf der neuen Operation anschaue, meint Kofman, sei das Datum 9. Mai wohl nicht besonders entscheidend.
Dieser Artikel erschien zuerst auf waz.de.