Lyman/Berlin. Das russische Militär muss sich aus strategisch wichtiger Stadt im Osten zurückziehen. Bei den Hardlinern in Moskau wächst die Wut.

Der Rausch in Russland über die Annexion besetzter Gebiete in der Ukraine währte nicht lange. Nur einen Tag nach der vom Kreml inszenierten Jubelfeier auf dem Roten Platz in Moskau mit „Hurra“-Rufen und tausenden wehenden russischen Fahnen muss Wladimir Putins Armee in seinem Krieg gegen die Ukraine eine weitere schwere Niederlage einstecken: Die Truppen des Kremlchefs haben sich in höchster Not aus der strategisch wichtigen Stadt Lyman zurückziehen müssen. Mehrere hochrangige russische Politiker fordern nun ein Köpferollen bei der Militärführung und sogar den Einsatz von Atomwaffen.

Noch ist vieles unklar, was in Lyman genau passiert ist – aber so viel scheint sicher: Die einstmals gut 20.000 Einwohner zählende Stadt ist nicht mehr länger in russischer Hand. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj gab am Sonntag die vollständige Eroberung des Ortes in der Ostukraine bekannt. „Dank an unser Militär!“, sagte Selenskyj in einem veröffentlichten Video.

in einer im Internet verbreiteten Videobotschaft gab Präsident Wolodymyr Selenskyj am Sonntag die vollständige Eroberung Lymans bekannt. W. Selenskyj/Facebook
in einer im Internet verbreiteten Videobotschaft gab Präsident Wolodymyr Selenskyj am Sonntag die vollständige Eroberung Lymans bekannt. W. Selenskyj/Facebook

Ukraine sprach von 5000 eingekesselten russischen Soldaten

Das russische Verteidigungsministerium hatte am Samstag den Rückzug aus Lyman selber bekanntgegeben und den Schritt mit der Gefahr einer Einkesselung begründet. Zuvor hatten ukrainische Behörden von rund 5000 eingekesselten russischen Soldaten gesprochen.

Nach Einschätzung britischer Geheimdienste haben die russischen Truppen bei dem Rückzug hohe Verluste erlitten. Die Stadt sei zuvor mutmaßlich von unterbesetzten russischen Einheiten sowie Reservisten verteidigt worden, hieß es am Sonntag im täglichen Kurzbericht des britischen Verteidigungsministeriums. Beim Rückzug über die einzige Straße aus der Stadt, die noch unter russischer Kontrolle sei, seien wohl viele Soldaten gefallen.

Die Niederlage in Lyman ist bereits der zweite große Rückschlag für Putins Armee binnen weniger Wochen. Anfang September hatte das ukrainische Militär tausende Quadratkilometer in der Region Charkiw zurückerobert. Auch im Süden des Landes ist das russische Militär in der Defensive.

Eine zerstörte Schule in der Stadt Kupjansk in der ostukrainischen Region Charkiw. Von dort hatten sich die russischen Truppen kürzlich ebenfalls zurückziehen müssen.
Eine zerstörte Schule in der Stadt Kupjansk in der ostukrainischen Region Charkiw. Von dort hatten sich die russischen Truppen kürzlich ebenfalls zurückziehen müssen. © AFP | YASUYOSHI CHIBA

Experten: Putin hat Rückzug aus Lyman selber entschieden

Anders als bei den Niederlagen Anfang September wiegt der Verlust Lymans für den Kreml besonders schwer – die Stadt liegt in der Region Donezk, die Moskau am Freitag zusammen mit den Regionen Luhansk, Saporischschja und Cherson nach dem Abhalten von Scheinreferenden völkerrechtswidrig und gegen den scharfen Protest des Westens zu seinem Staatsgebiet erklärt hatte.

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Die Militärexperten des renommierten Institute for the Study of War (ISW) sehen in dem Rückzug aus Lyman „mit ziemlicher Sicherheit“ eine bewusste Entscheidung Putins. Nicht die Militärkommandos hätten entschieden, dass die Frontlinien nahe der Städte Kupjansk oder Lyman nicht verstärkt werden, sondern der Präsident selbst, so die Fachleute vom ISW. Es deute darauf hin, dass sich Putin vielmehr um die Sicherung anderer strategischer Gebiete in den annektierten Gebieten kümmern wolle.

Für Verunsicherung sorgt im Westen, wie weit Putin gehen könnte, um die geraubten Gebiete zu verteidigen. Russlands Führung hat mehrfach erklärt, dass es Angriffe auf diese Regionen künftig als Angriffe auf eigenes Territorium betrachten werde. Für diesen Fall hatte die Nummer zwei des russischen Sicherheitsrates, Ex-Präsident Dmitri Medwedew, mit dem Einsatz „strategischer Atomwaffen“ gedroht. Auch Putin selbst drohte mit Atomwaffen und erklärte dazu in einer Ansprache jüngst: „Das ist kein Bluff.“

Ukrainische Truppen könnten im nördlichen Donbass vorrücken

Die ukrainische Führung lässt sich von den Drohungen bisher nicht beeindrucken und setzt den Rückeroberungskampf fort. Nach Lyman dürfte sie den Fokus auf einen weiteren Vormarsch im nördlichen Donbass legen und versuchen, im Gebiet Luhansk in Richtung der Verkehrsknoten Swatowe und Kreminna vorzustoßen.

Auf russischer Seite sorgt die erneute Niederlage für erbitterte Kommentare: Die einflussreiche Bloggerin und ehemalige PR-Chefin des Duma-Vorsitzenden Wjatscheslaw Wolodin, Anastassija Kaschewarowa, forderte Antworten von Verteidigungsminister Sergej Schoigu und Generalstabschef Waleri Gerassimow: „Weiß der Präsident von den Vorfällen? Wer berichtet ihm? Wo ist die Ausrüstung? Wo sind die Armata [Panzer, Anm. d. Red.]? Wo ist alles? Wie konnte das passieren? Eingesackt? Verkauft? Wo ist es hin? Gab es das überhaupt?“

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Der berüchtigte putintreue tschetschenische Machthaber Ramsan Kadyrow verlangte, den für den Frontabschnitt verantwortlichen Generaloberst Alexander Lapin abzusetzen, zu degradieren und als einfachen Soldaten an die Front zu schicken.

Gleichzeitig forderte Kadyrow, den Einsatz von Atomwaffen in Betracht zu ziehen. „Meiner Meinung nach sollten drastischere Maßnahmen ergriffen werden bis hin zur Verhängung des Kriegsrechts in den Grenzgebieten und dem Einsatz von Atomwaffen mit geringer Sprengkraft“, erklärte Kadyrow.

Dieser Text erschien zuerst auf morgenpost.de

Ukraine-Krieg – Hintergründe und Erklärungen zum Konflikt