Krasnoje. Aljonas Mann ist tot. Er wurde voller Blutergüsse aus dem Fluss gezogen. Was Bewohnern der besetzten Stadt droht, die sich widersetzen.

Am Tag vor der Beerdigung ihres Vitaliy sitzt Aljona Laptchuk in einem Pavillon im weitläufigen Garten hinter einem schlichten grauen Häuschen in Krasnoje und schwankt zwischen Trauer und Wut. Es ist ein warmer Junitag, ein leichter Wind streicht durch die Blätter der kleinen Kirsch- und Apfelbäume, hinter dem Grundstück ragt ein Wasserturm in die Höhe, auf dem ein Storch regungslos in seinem Nest steht. Vögel zwitschern, manchmal ist ein leises Grollen zu hören, die düstere Melodie des Krieges im Süden der Ukraine.

Aljona Laptchuk zeigt auf dem Smartphone die wenigen Bilder ihres Vitaliy, die ihr geblieben sind. Auf den meisten lacht ein großer starker Mann. Auf einem ist eine von Blutergüssen übersäte, im Wasser des Dnipro aufgequollene Leiche zu sehen. „Ich will, dass die Welt erfährt, was für Tiere nach Cherson gekommen sind“, sagt sie.

Cherson im Süden der Ukraine, knapp 100 Kilometer nordwestlich der von Russland vor acht Jahren annektierten Halbinsel Krim, war die erste Regionalhauptstadt, die nach dem russischen Überfall besetzt wurde. Seit der Eroberung der 300.000-Einwohner-Stadt Anfang März versuchen die Besatzer, Cherson zu russifizieren.

Ukraine: Im besetzen Cherson wehen russische Fahnen

Sie haben den Rubel als Zahlungsmittel eingeführt, hissen russische Fahnen, verteilen russische Pässe. Die Besatzer stoßen dabei aber offenbar auf den Widerstand vieler Bürger. Sie unterdrücken ihn mit brutaler Gewalt. Menschen werden verschleppt. Menschen verschwinden, berichten Bewohner der Stadt.

Mitte Mai hatte unsere Redaktion bereits einmal mit Anatoli, einem Geschäftsmann aus Cherson, Kontakt. Anatoli ist nicht sein richtiger Name. Am vergangenen Wochenende war er wieder erreichbar per Whatsapp. Er schreibt, mittlerweile sei es in Cherson wie in den selbsternannten Volksrepubliken von Donezk oder Luhansk: „Jemand wird verhaftet. Jemand wird gefoltert. Ausgangssperre. Deswegen bleibe ich zu Hause.“ Er verlasse seine Wohnung oft für mehrere Tage nicht. Die russischen Soldaten seien allerdings nur selten auf der Straße zu sehen.

Mittlerweile sind in Cherson und in der Umgebung Partisanen aktiv. Der Widerstand beschränkt sich nicht mehr auf Graffitis, Flugblätter, das Hissen ukrainischer Fahnen. Erst am Sonntag ist laut ukrainischen Telegram-Kanälen der von den Russen installierte Chef der lokalen Gefängnisverwaltung bei einem Anschlag auf sein Fahrzeug verletzt worden. Die Angaben lassen sich aus dem Ausland allerdings nicht überprüfen.

Bereits am 20. März war ein Assistent von Volodymyr Saldo, das ist der prorussische Defacto-Gouverneur der Region, bei einem Angriff getötet worden. Am 20. April wurde der prorussische Blogger Valerii Kuleshov in Cherson erschossen.

Vor dem Ukraine-Krieg bauten sie ihr Haus in Cherson

Aljona und Vitaliy Laptchuk lebten im Stadtteil Stepaniwka im Norden Chersons. „Unser Haus haben wir selbst gebaut“, sagt die 54-Jährige. Sie hatten in Cherson eine kleine Tankstelle, die Aljona führte. Vitaliy war ihr zweiter Mann, er hatte bei den Luftlandetruppen in Mykolajiw gedient, dann wurde er Polizist, zuletzt war er bei einem privaten Unternehmen in Kiew beschäftigt. „Er war ein Mann, der hart gearbeitet hat, die Liebe meines Lebens“, erzählt sie. Ihre Geschichte kann nicht im Detail nachgeprüft werden. Aber sie deckt sich mit den Berichten anderer Menschen aus Cherson, mit denen unsere Redaktion in den vergangenen Wochen Kontakt hatte.

LandUkraine
KontinentEuropa
HauptstadtKiew
Fläche603.700 Quadratkilometer (inklusive Ostukraine und Krim)
Einwohnerca. 41 Millionen
StaatsoberhauptPräsident Wolodymyr Selenskyj
RegierungschefMinisterpräsident Denys Schmyhal
Unabhängigkeit24. August 1991 (von der Sowjetunion)
SpracheUkrainisch
WährungHrywnja

Als die russische Invasion am 24. Februar beginnt, rücken Angreifer im Oblast Cherson rasch vor. Die Region ist wichtig. In Nowa Kachowka einige Kilometer östlich der Regionalhauptstadt beginnt der Nord-Krim-Kanal, über den die Krim mit Wasser aus dem Dnipro versorgt wird. Nach der Annexion der Halbinsel hatten die ukrainischen Behörden den Zufluss durch den Kanal gesperrt. Die Krim litt in der Folge unter massivem Wassermangel. Die russischen Truppen stoßen bei ihrem Vormarsch auf wenig Gegenwehr. Vitaliy macht sich von Kiew aus auf den Weg zu seiner Familie, zu seiner Stadt.

Aljona Laptchuk aus Cherson zeigt ein Foto ihres Mannes Vitaliy.
Aljona Laptchuk aus Cherson zeigt ein Foto ihres Mannes Vitaliy. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

„Er war wütend, dass die Antoniwka-Brücke nicht gesprengt worden war“, erzählt Aljona. Über die Brücke führt die M17 direkt zur Krim. Vitaliy organisiert gemeinsam mit seinem Freund Deniz Mironow Gewehre, Molotow-Cocktails, Granaten. Er kommandiert bereits zwei Tage nach Kriegsbeginn eine Einheit von 59 Kämpfern der Territorial-Verteidigung.

Der Widerstand bricht rasch zusammen, als eine andere Einheit von Freiwilligen in einen Hinterhalt gerät und zusammengeschossen wird. 40 Männer sterben. „Da haben dann viele ihre Waffen weggeworfen“, sagt Aljona. Am 1. März marschieren die Russen in Cherson ein.

„Nachts konnte man ihre Schreie hören“

Vitaliy und Deniz verteilen in den Tagen darauf Brot an die Bevölkerung. Sie sammeln Informationen über russische Truppenbewegungen, geben sie weiter an das ukrainische Militär. Und sie holen die weggeworfenen Waffen und verstecken sie, so erzählt es Aljona.

In den Wochen darauf gibt es immer wieder Proteste gegen die russische Besatzung. Auch Aljona und Vitaliy nehmen daran teil. Die Russen feuern Warnschüsse ab, setzen Tränengas und Blendgranaten ein, um die Menge zu zerstreuen.

Als Einheiten der Rosgwardija in Cherson einrücken, der russischen Nationalgarde, „da wurde es wirklich gefährlich“, erinnert sich Aljona. Die dem russischen Präsidenten Putin treu ergebenen Truppen führen Säuberungsaktionen durch. „Viele Leute kamen in Gefangenschaft. Nachts konnte man ihre Schreie hören.“

Vitaliy erwischt es am 27. März. Er fährt mit Deniz zu einem anderen Freund, der sie gebeten hat, zu ihm zu kommen. Aljona ist heute überzeugt, dass dieser Freund ein Kollaborateur ist. Um 13 Uhr halten drei Fahrzeuge vor der Tür. „Mein Mann hat mich angerufen, und mir gesagt, ich solle die Tür öffnen.“ Als die aufmacht, erkennt sie ihren Vitaliy kaum wieder. Sein Kiefer ist zerschlagen, das Gesicht blau und grün. Seine Augen sind stumpf. Mit tonloser Stimme murmelt er: „Sie wollen nur die Waffen, Aljona“.

Neun russische Soldaten durchsuchen das Haus. Aljona berichtet, wie sie die Männer anschreit. Einer mit einem Abzeichen der sogenannten Volksrepublik Donezk droht ihr, er werde ihr die Zähne ausschlagen, wenn sie nicht ruhig sei. Vitaliys Mutter wird hysterisch, hält eine Bibel schützend vor sich, als wolle sie den Teufel vertreiben, betet laut. Die Soldaten zerren Vitaliy in den Keller, wo die Waffen sind, schlagen ihn dort weiter zusammen. „Sein Blut war überall“, erzählt Aljona.

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Sie verschleppten die ganze Familie, erzählt Aljona

Die Männer stülpen Aljona, Vitaliy und ihrem ältesten Sohn Andrej Kapuzen über den Kopf, fesseln sie mit Kabelbindern. Aus dem Haus nehmen sie sämtliche Mobiltelefone der Familie mit, alles Bargeld, das sie finden, das Gold der Schwiegermutter und natürlich die Waffen. Sie verschleppen die Familie in die Polizeistation an der Lutiranskaya im Stadtzentrum, stecken die drei in unterschiedliche Zellen, nehmen Fingerabdrücke und DNA-Proben und machen Fotos von ihnen. „Wir befreien euch von den Nazis“, sagt der Mann, der Aljona interviewt. „Mein Vater ist Jude“, antwortet sie.

Vitaliy stammt aus Lwiw ganz im Westen der Ukraine. Die Russen glauben, er ist ein Bandera-Anhänger. Bandera war ein nationalistischer ukrainischer Partisanenführer, der im Zweiten Weltkrieg zeitweilig mit der deutschen Wehrmacht zusammengearbeitet hat.

Nach mehreren Stunden lassen die Russen Aljona und Andrej frei. Vitaliy bringen sie in den Keller der Polizeistation. Sie wollen von ihm die Namen der anderen Mitglieder seiner Einheit in Erfahrung bringen. Aljona sieht ihren Mann nicht mehr lebendig wieder. Auch Deniz Mironow landet in diesem Keller.

Aljona berichtet auch Deniz sei tot

Was den beiden dort Keller widerfährt, kann Aljona nur aus Aussagen von zwei weiteren Gefangenen rekonstruieren, die mit den beiden Männern gefoltert werden. Die Folterer sprechen sich nur mit Spitznahmen an. Engel. Dämon. Ural. Dunai. Fortuna. Das Martyrium dauert zwei Wochen. Deniz taucht am 18. April wieder auf. Seine Rippen sind gebrochen. Am 23. April stirbt er, weil eine der gebrochenen Rippen seine Lunge durchbohrt hat, berichtet Aljona.

Am 26. Mai wird die Leiche von Vitaliy von einem Angler aus dem Dnipro gezogen. Er ist gefesselt, sein Körper ist mit einer Hantel beschwert worden. Aljona kann ihn auf Fotos nur anhand des Muttermals auf seinem linken Arm identifizieren. Ihr Bruder, ein Arzt, der in Cherson geblieben ist, untersucht die Leiche. Sein Schädel ist zertrümmert.

Aljona hat Cherson bereits am 7. April verlassen, einen Tag nach der Ehefrau von Deniz. Sie schaffen es mit Glück durch die russischen Checkpoints. An der Beerdigung ihres Mannes kann Aljona nicht teilnehmen.

LandUkraine
KontinentEuropa
HauptstadtKiew
Fläche603.700 Quadratkilometer (inklusive Ostukraine und Krim)
Einwohnerca. 41 Millionen
StaatsoberhauptPräsident Wolodymyr Selenskyj
RegierungschefMinisterpräsident Denys Schmyhal
Unabhängigkeit24. August 1991 (von der Sowjetunion)
SpracheUkrainisch
WährungHrywnja