Frankfurt/Florenz. Mit Verspätung ist Marco Verratti in die EM gestartet. Inzwischen ist der nur 1,65 Meter große Giftzwerg für Italien unverzichtbar.

Marco Verratti hatte in seinem dunkelgrünen T-Shirt zumeist die Arme verschränkt, seine Miene verriet eine gewisse Anspannung. Ganz alleine an einem Pressepodium zu sitzen, das bunte Mannschaftsposter allerdings im Rücken, ist für den Mittelfeldspieler des italienischen Nationalteams sicher nichts Neues gewesen, aber der 28-Jährige spürte im Medienzentrum in Florenz Coverciano sehr wohl, dass selbst für einen kampferprobten Recken wie ihn, der auf dem Platz nichts und niemand fürchtet, mit dem EM-Finale zwischen England und Italien (Sonntag 21 Uhr/ZDF) eben kein Spiel bevorsteht, das mit Abpfiff schon Geschichte ist – dieses Ereignis ist für die Ewigkeit: „Das ist der Traum eines jeden Kindes, das Fußball spielt, es wird ein episches Finale, und auf jeden Fall wird Geschichte geschrieben.“

Italien-Profi Marco Verratti: Heimvorteil kann auch Nachteil sein

Und dann formulierte er seine Vorahnung, was gegen die in Wembley frenetisch angefeuerten Engländer entscheidend sein könnte: „Spiele wie dieses können dich großen Druck spüren lassen. Die Mannschaft, die mehr Spaß hat und das Spiel vom Kopf her lockerer angeht, wird einen Vorteil haben.“ Wobei sich der 44-fache Nationalspieler sehr bald in der Fragerunde eigentlich selbst widerlegte. Der bereits seit 2012 für Paris St. Germain spielende Profi glaubt, dass das erneuerte England und das wiedererstarkte Italien erbittert um die Vorherrschaft im Mittelfeld ringen werden. Beide Mannschaften seien ja ansonsten bestens ausbalanciert.

Was gewiss stimmt: Englands Torhüter Jordan Pickford hat erst ein Gegentor bei dieser EM kassiert, Italiens Keeper Gianluigi Donnarumma noch nie mehr als einen Gegentreffer bei der seit 33 Länderspielen unbesiegten Squadra Azzurra. Über sein Torwart-Naturtalent mitsamt den Verteidiger-Ikonen Leonardo Bonucci und Giorgi Chiellini sei er „unglaublich glücklich“, beteuerte Verratti, es gehe im Finale darum, sich im Mittelfeld durchzusetzen. Er und Jorginho vom FC Chelsea gegen Kalvin Phillips von Leeds United und Declan Rice von West Ham United – das zentrale Territorium auf heiligem Rasen zu erobern, soll der Schlüssel zum Sieg sein. Verratti ist dafür wie gemacht. Ein kleiner Terrier, 1,65 Meter klein, 60 Kilo leicht, aber ein ganz Großer, der sich auch mit Vorliebe in schillernde Champions-League-Duelle verbeißt.

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Noch vor zwei Monaten liefen Meldungen wie „Verratti droht EM-Aus“ über die Nachrichtenticker. Ein „gezerrtes inneres Mittelband im Knie“, so verbreitete sein Arbeitgeber PSG, bedeute eine sechswöchige Pause. Italiens Nationaltrainer Roberto Mancini nominierte ihn trotzdem; sein Giftzwerg mischte aber erst zum dritten Gruppenspiel gegen Wales (1:0) mit, als die Kollegen bereits die Achtelfinalqualifikation erkämpft hatten. Doch der „Commissario Tecnico“ wusste genau, dass die K.o.-Runde nichts für Schönspieler ist. Auch wenn Mancini seine Nummer sechs zuletzt drei Mal vorzeitig auswechselte, braucht er dessen Widerstandskraft. „Es hätte mir Schmerzen bereitet, wenn ich nicht rechtzeitig fit geworden wäre“, erklärte Verratti im Rückblick.

Italien gewann 2012 im EM-Viertelfinale gegen England

Umso länger er übrigens bei der virtuellen Pressekonferenz redete, desto selbstbewusster wirkte er. Die britischen Boulevardreporter konnten ihn natürlich nicht entkommen lassen, ohne ihn auf das EM-Viertelfinale 2012 anzusprechen. Damals im Olympiastadion von Kiew begegneten sich Engländer und Italiener letztmals bei einer Endrunde, nach torlosen 120 Minuten sollten die Three Lions, wie ginge es auch anders, im Elfmeterschießen verlieren. Verratti versicherte, obwohl er es damals nicht in den EM-Kader schaffte, „gute Erinnerungen“ zu besitzen. „Und das ist ja das Schöne: Es wird auch jetzt einen Gewinner geben“, sagte er und lachte. Ahnt da einer schon, was am Sonntag geschieht?