Berlin. Zwischen 10,5 und 15 Prozent mehr Gehalt fordern Gewerkschaften in aktuellen Verhandlungen. Was heißt das für die aktuelle Inflation?

Augenblicklich gehen die Gewerkschaften mit erstaunlich hohen Lohnforderungen in die Tarifverhandlungen. Für die Beschäftigten der Deutschen Post verlangt Verdi 15 Prozent mehr Geld, für den Öffentlichen Dienst 10,5 Prozent. Die Eisenbahn-Gewerkschaft EVG will 12 Prozent mehr durchsetzen. Sind solche hohen Forderungen gefährlich, weil sie die Inflation weiter antreiben, wodurch die Preise auch für Konsumgüter zusätzlich steigen würden?

Was ist eine Lohn-Preis-Spirale?

In diesem Begriff steckt die ökonomische Analyse, dass ungerechtfertigt hohe Lohnforderungen der Gewerkschaften die Inflation anheizen können. Zwar reagieren die Organisationen der Beschäftigten dann vielleicht nur auf Preiserhöhungen und verlangen einen Ausgleich dafür, dass die Lebenshaltungskosten ihrer Mitglieder steigen. Doch überhöhte Forderungen können bewirken, dass die Preise zusätzlich wachsen. Dadurch wäre nichts gewonnen – außer einer Begründung für noch höhere Lohnforderungen.

Woher kommt die Inflation momentan?

Eine wesentliche Ursache waren die starken Preissteigerungen für Energie während der vergangenen anderthalb Jahre. Viele Unternehmen und Privathaushalte bezahlen jetzt doppelt so viel für Erdgas wie vorher. Hinzu kam in manchen Branchen eine hohe Nachfrage, die die Unternehmen nicht schnell befriedigen konnten. Beispielsweise bei Wohnungen war das der Fall. Diese Preissteigerungen hatten aber mit den Löhnen der Beschäftigten nichts zu tun. Lohnerhöhungen spielten für die Inflation 2022 kaum eine Rolle. Darauf wies zum Beispiel der Präsident der Bundesbank, Joachim Nagel, hin: „Eine Lohn-Preis-Spirale suggeriert massive Lohnerhöhungen, die dann die Preise treiben.“ Aktuell sei es jedoch umgekehrt: „Wir haben einen Kostenschub erlebt, der zu höheren Preisen geführt hat.“

Wann ist eine Lohnforderung zu hoch?

Alexander Kriwoluzky vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin sagt: „Die Gefahr einer Lohn-Preis-Spirale besteht beispielsweise dann, wenn die Lohnabschlüsse wesentlich über der Inflationsrate liegen, weil Arbeitgeber und Gewerkschaften eine weiter steigende Inflation annehmen.“

Beschäftigte der Deutschen Post demonstrieren für mehr Lohn.
Beschäftigte der Deutschen Post demonstrieren für mehr Lohn. © dpa | Marcus Brandt

Wie entwickeln sich die Reallöhne?

Um diese Frage zu beantworten, muss man die Gehaltssteigerungen der Beschäftigten 2022 und die aktuellen Lohnforderungen mit der Inflationsrate vergleichen. Während die Bruttomonatsverdienste von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern im vergangenen Jahr um 3,4 Prozent wuchsen, erhöhten sich die Verbraucherpreise um 7,9 Prozent, teilte das Statistische Bundesamt mit. Unter dem Strich sanken die Reallöhne um durchschnittlich 4,1 Prozent. Aus Sicht der Gewerkschaften erscheint es deshalb gerechtfertigt, diesen Verlust ebenso auszugleichen wie die Inflation im laufenden Jahr, die bei sechs Prozent liegen mag. So betrachtet könnten die Beschäftigten 2023 durchaus rund zehn Prozent mehr erhalten.

Welche Faktoren sind entscheidend für die Lohnentwicklung?

„Nachvollziehbare Lohnforderungen basieren oft auf drei Größen: der Inflationsrate, dem Zuwachs der Produktivität und einer Umverteilungskomponente“, erklärte DIW-Ökonom Kriwoluzky. Dabei beschreibt die Steigerung der Produktivität den technischen Fortschritt in den Unternehmen, wodurch sich deren Einnahmen erhöhen. Und die Umverteilungskomponente betrifft einen vertretbaren Anteil am Gewinn. Krivoluzky: „Vor diesem Hintergrund erscheinen Forderungen von zehn Prozent oder mehr derzeit durchaus plausibel.“ Dadurch würde der Faktor Arbeit für die Firmen auch nicht über Gebühr teurer, so dass diese deshalb nicht gezwungen wären, ihre Preise weiter hochzuschrauben.

Was spricht für eine Lohn-Preis-Spirale?

In der Europäischen Zentralbank läuft dennoch eine Debatte darüber, wie die Lohnentwicklung zu betrachten ist. So schrieb EZB-Chefvolkswirt Philip Lane: „Die Lohninflation wird in den nächsten Jahren ein Haupttreiber der Preisinflation sein, selbst wenn Energie- und Pandemie-Faktoren aus der Inflationsmessung verschwinden.“ Im Hintergrund steht dabei die Sorge, dass die Lohnsteigerungen ein paar Jahre anhalten, während die Inflation schon wieder zurückgegangen ist. Damit könnten sich die Löhne zu stark erhöhen – und in der Folge die Preise. Mit höheren Zinsen wird die Zentralbank versuchen, diesen Effekt zu verhindern.