Berlin. Müssen die Beschäftigten bald mehr arbeiten und können später in Rente? Für Gesamtmetall-Präsident Stefan Wolf ist das unumgänglich.

Dreht Russland den Gashahn vollständig zu, wäre die Industrie in Deutschland hart getroffen. Stefan Wolf, Präsident des mächtigen Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall, will die Industrie daher bei der Verteilung von Gas priorisieren.

Aus seinem Homeoffice in Süddeutschland stimmt der oberste Arbeitgebervertreter der Metall- und Elektroindustrie im Videointerview die Beschäftigten auf Verzicht ein – und perspektivisch auf mehr und längere Arbeit.

Herr Wolf, Russland hat die Gaslieferungen erneut gedrosselt. Rechnen Sie mit einem vollständigen Gasstopp?

Stefan Wolf: Man darf Putin nicht unterschätzen, er ist ein Stratege. Würde er jetzt das Gas komplett abstellen, dann würde er uns zwar treffen – aber nicht so hart wie im Oktober oder November. Man kann vermuten, dass der komplette Gasstopp im Herbst kommen wird – zu einer Zeit, in der auch die Privathaushalte ihre Gasheizungen wieder nach oben fahren werden.

Vor allem in Süddeutschland hat man die Sorge, dass im Falle eines Embargos nicht mehr genug Gas anlandet. Dort hat auch Ihr Unternehmen, der Automobilzulieferer ElringKlinger, seinen Sitz. Fürchten Sie persönlich einen Gasstopp?

Wolf: Ein Gasstopp wäre eine extreme Herausforderung. Ein Beispiel: In jedem Verbrennungsmotor befindet sich eine Zylinderkopfdichtung. Diese Edelstahllagen werden in einem mit Gas betriebenen Ofen bei 600 Grad Celsius wärmebehandelt. Wenn ich diese Wärmebehandlung nicht durchführen kann, denn werden keine Zylinderkopfdichtungen produziert und in der Folge keine Verbrennungsmotoren und somit keine Autos gebaut. ElringKlinger hat einen Marktanteil von 60 Prozent bei Zylinderkopfdichtungen weltweit. Bekommen wir dafür kein Gas mehr, dann stockt der Bau von Fahrzeugen.

Die Meinungen darüber, wie schlimm ein Gasstopp Deutschland treffen würde, reichen von „verkraftbar“ bis hin zur „Zerstörung der Volkswirtschaft“. Wo verorten Sie sich auf dieser Skala?

Wolf: Man kann Krisen immer meistern. Wichtig ist, sich jetzt zu überlegen, wo man bereits Gas einsparen kann. Wirtschaftsminister Robert Habeck hat gute Vorschläge präsentiert. Ganz wichtig ist, dass der Vorrang der Privathaushalte bei der Gasversorgung fällt. Wir müssen gezielt schauen, welche Industrien systemrelevant sind. Wenn wir Privathaushalte in einer Mangellage beliefern und die Industrie hintenüberfällt, dann können die Menschen zwar noch Gas beziehen, ihre Abrechnungen aber trotzdem nicht mehr bezahlen, weil sie arbeitslos werden. Wird die Industrie vernachlässigt, sind Hunderttausende Arbeitsplätze gefährdet.

Der Verbraucherschutz beim Gas ist geltendes EU-Recht.

Wolf: Es gibt viele europäische Regelungen, die zu einem Zeitpunkt entstanden sind, als man sich Situationen wie die jetzige nicht vorstellen konnte. Deshalb ist die Bundesregierung gefordert, klare Kante zu zeigen und im Notfall entsprechende Verteilungen zu ermöglichen. Es geht darum, die deutsche Wirtschaft zu erhalten.

Stefan Wolf ist seit November 2020 Präsident des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall.
Stefan Wolf ist seit November 2020 Präsident des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall. © Amin Akhtar | Amin Akhtar

Was wäre ein Kompromiss bei der Verteilung?

Wolf: Man muss eine intelligente Aufteilung finden. Die Industrien, die elementar auf Gas angewiesen sind, müssen wir versorgen. Gehen in der Glasindustrie wegen fehlenden Gases die Wannen kaputt, entstehen uns Milliardenschäden. Das müssen wir verhindern.

Was ist der Beitrag der Metall- und Elektro-Industrie?

Wolf: Wir müssen uns in Zukunft mehr Gedanken darüber machen, was es für geopolitische Risiken gibt. Ich hätte mir nicht vorstellen können, dass es einen konventionellen Krieg auf europäischen Boden wieder geben wird.

Die Auftragsbücher der Unternehmen sind voll, die Gewinne sprudeln. Die Energieeinsparungen gingen zuletzt aber nur noch mäßig voran. Investieren die Firmen zu wenig in Energieeffizienz?

Wolf: Die Gewinnsituation ist extrem unterschiedlich. Jedes Unternehmen hat die Problemstellung erkannt. Das passiert nicht erst seit dem Winter. Die Metall- und Elektro-Industrie arbeitet seit Jahren daran, energieeffizienter zu werden und grünen Strom zu nutzen. Jetzt sind die Auftragsbestände zwar hoch, sie werden aber nicht abgerufen.

Manche Konzerne profitieren kräftig von der Krise. Teile der Politik fordern eine Übergewinnsteuer.

Wolf: Von einer Übergewinnsteuer halte ich gar nichts. Es gibt Unternehmen, die derzeit eine Sonderkonjunktur haben. Eine Sonderkonjunktur zu besteuern, halte ich für falsch.

Ist dann auch das Vorgehen der Mineralölkonzerne nur eine „Sonderkonjunktur“ – immerhin ermittelt das Kartellamt?

Wolf: Von den höheren Spritpreisen profitiert der Staat massiv durch höhere Steuereinnahmen. Zudem ist der Ölpreis deutlich gestiegen. Auch Mineralölkonzerne kämpfen mit Mehrkosten und die Ermittlungen sind abzuwarten

Wenn Ihrer Meinung nach zu viel Geld an den Staat geht, sollten wir dann den Tankrabatt dauerhaft behalten?

Wolf: Man kann den Satz der Mineralölsteuer senken. Im Vergleich zu anderen Ländern haben wir in Deutschland fast die höchsten Preise für Benzin und Diesel. Damit werden Pendler massiv getroffen.

Innerhalb der Bundesregierung tobt eine Debatte zur Verlängerung der Laufzeiten der Atomkraftwerke. Sollten die AKWs am Netz bleiben?

Wolf: Ich halte eine längere Laufzeit der Atomkraftwerke für absolut notwendig. Eine verlängerte Laufzeit der drei noch im Betrieb befindlichen Atomkraftwerke kann die Verstromung von Gas deutlich reduzieren. Und sie kann dazu beitragen, die Stromversorgung zu sichern, wenn wirklich kein Gas mehr zu Verfügung steht. Wir müssen aber auch eine Debatte über den Bau von neuen Atomkraftwerken führen. Weltweit werden derzeit 50 neue Atomkraftwerke gebaut, die Technik hat sich weiterentwickelt. Die EU hat die Atomenergie gerade erst als grüne Energie gekennzeichnet.

Die Taxonomie beim Atomstrom ging vor allem auf das Betreiben Frankreichs zurück. Dort steht derzeit die Hälfte der Atomkraftwerke wegen Problemen oder Wartungen still.

Wolf: Auf EU-Ebene braucht man Gemeinschaftsentscheidungen. Es mag sein, dass Frankreich das Projekt vorangetrieben hat, aber die Entscheidung wurde gemeinschaftlich getroffen.

Die Kosten von Atomstrom sind über die gesamte Lebensdauer eines Kraftwerks gerechnet viel höher als bei erneuerbaren Energien. Legen Sie nicht einen falschen Fokus?

Wolf: Der Fokus muss auf erneuerbaren Energien liegen. Aber unser Gesamtstrombedarf wird in Zukunft enorm sein. Bei den langen Genehmigungs- und Bauzeiten hierzulande werden wir ihn niemals mit regenerativen Energien abdecken können.

Wirtschaftsminister Robert Habeck warnt davor, dass die drei verbleibenden AKWs gewartet werden müssten – oder wir hätten in einer Zeit von steigenden Cyberattacken auf Infrastruktur unsichere Meiler.

Wolf: Das Argument halte ich nicht für zielführend. Wir könnten die Atomkraftwerke weiterlaufen lassen. Die Sicherheitsrisiken können wir absichern, wir haben gute Schutzschirme gegen Cyberangriffe.

Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) warnt dagegen vor einem Blackout bei der Stromversorgung. Teilen Sie seine Sorge?

Wolf: In der derzeitigen Situation rechne ich nicht mit Blackouts. Aber es kann zu Versorgungsengpässen kommen.

Um die drei am Netz verbliebenen Atomkraftwerke – hier das bayerische Isar 2 – hat sich Debatte entsponnen.
Um die drei am Netz verbliebenen Atomkraftwerke – hier das bayerische Isar 2 – hat sich Debatte entsponnen. © dpa | Armin Weigel

Was halten Sie von einem Gaspreisdeckel?

Wolf: Das kommt auf die Ausgestaltung an. Grundsätzlich bin ich für die freien Regelungskräfte des Marktes. Sollte sich der Gaspreis nochmal deutlich erhöhen, dann muss man sich neu Gedanken machen.

Ab Oktober soll das Gas-Auktionsmodell für Unternehmen starten. Ist das eine gute Idee?

Wolf: Ich halte ein Gas-Auktionsmodell nicht für sinnvoll. Es braucht intelligente Verteilsysteme. Auktionen treiben nur die Preise nach oben. Die Belastungen für alle Unternehmen über die hohen Energie- und Materialpreise sowie die Transportkosten sind bereits massiv gestiegen. Und in einer solchen Lage fordert die IG Metall acht Prozent mehr Lohn.

Was bedeutet die Forderung für Sie?

Wolf: Ich halte die Forderung für verantwortungslos und frage mich, ob sich die Verhandler von der IG Metall überhaupt irgendwelche Gedanken gemacht haben. Wir haben bereits ein extrem hohes Lohnniveau in der Metall- und Elektro-Industrie. In der jetzigen Situation muss man eher Verzicht üben. Es geht darum, Arbeitsplätze zu sichern.

IG-Metall-Chef Jörg Hofmann sieht keine Krise – sondern spricht von unsicheren Zeiten auf einer wirtschaftlich guten Faktenlage. Die Zahlen großer Unternehmen sprechen bisher ebenfalls eine gute Sprache.

Wolf: Es gibt das ein oder andere Unternehmen, dem es noch gut geht. Vielen Unternehmen geht es aber schlecht, etwa mittelständischen Betrieben in der Automobilzulieferung. Wir haben bereits zwei schlechte Jahre hinter uns. Wir liegen in der Produktion noch immer 12 Prozent unter dem Niveau des Jahres 2018. Um überhaupt einen Verteilungsspielraum zu haben, müssen wir erst wieder auf das Niveau des Jahres 2018 kommen.

Die IG Metall rechtfertigt die Forderung auch damit, dass so der Konsum und damit die Konjunktur am Laufen gehalten wird.

Wolf: Wir brauchen keine acht Prozent mehr Lohn in der Metall- und Elektro-Industrie, um in der Konsumgüterindustrie die Wirtschaft am Laufen zu halten. Einen Einfluss hat die Inflation, aber dort sind die Politik und die Europäische Zentralbank gefordert. Würden wir die Inflation über eine Lohnerhöhung abfedern, kommen wir in eine Lohn-Preis-Spirale.

Droht aus Ihrer Sicht die Lohn-Preis-Spirale bereits?

Wolf: Noch sind wir in keiner Lohn-Preis-Spirale, aber die Gefahr besteht bei einem zu hohen Abschluss in der Metall- und Elektro-Industrie.

Gerade in Ihrer Branche machen die Lohnkosten nur einen Bruchteil der gesamten Produktionskosten aus.

Wolf: Das kommt ganz auf das jeweilige Unternehmen an. Bei Zuliefern spielen Lohnkosten eine wichtige Rolle.

Rechnen Sie mit Streiks?

Wolf: Mit Warnstreiks rechne ich auf jeden Fall, das ist ein elementarer Bestandteil für die IG Metall. Ich hoffe nur, dass die IG Metall sich besinnt und ihr Instrument der Ganztagesstreiks überdenkt. In der jetzigen Situation den Unternehmen mit einem Streik hohe Kosten aufzubürden, halte ich für falsch.

Angesichts der Warnstreiks in Seehäfen hätte sich Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger die Ausrufung eines nationalen Notstands vorstellen können, der das Streikrecht brechen würde. Wäre so etwas bei einem Gasstopp auch für die Metall- und Elektro-Industrie denkbar?

Wolf: Grundsätzlich muss die Verhältnismäßigkeit gewahrt bleiben. Aber wenn es zu solchen Beeinträchtigungen käme, die Schäden in der Wirtschaft hervorrufen, dann geht es auch um die Reputation Deutschlands.

Gesamtmetallchef Stefan Wolf rechnet mit Warnstreiks seitens der IG Metall.
Gesamtmetallchef Stefan Wolf rechnet mit Warnstreiks seitens der IG Metall. © FUNKE Foto Services | Olaf Fuhrmann

Angesichts des Fachkräftemangels fordern unter anderem IW-Chef Hüther und Industriepräsident Russwurm die Einführung der 42-Stunden-Woche.

Wolf: KanzlerOlaf Scholz hat von einer Zeitenwende gesprochen – die Zeitenwende ist da, und zwar in allen Bereichen.

Im vergangenen Jahr haben Sie sich offen für die Rente mit 70 gezeigt. Was ziehen Sie vor – die Rente mit 70 oder die 42-Stunden-Woche?

Wolf: Schaut man sich die demografische Entwicklung und die Belastungen der Sozial- und Rentenkassen an, dann sind die Reserven aufgebraucht. Wir werden länger und mehr arbeiten müssen. Stufenweise werden wir auf das Renteneintrittsalter von 70 Jahren hochgehen müssen – auch weil das Lebensalter immer weiter steigt. Ansonsten wird das System mittelfristig nicht mehr finanzierbar sein.