Bonn. Die Grünen stellen sich hinter den Vorschlag ihres Wirtschaftsministers - und betonen rote Linien im Kernkraft-Streit mit der FDP.

Die Banner hingen an den Bäumen auf dem Weg zum Grünen-Parteitag wie eine Erinnerung an die Wurzeln der Partei: Die ikonische rote Sonne auf gelbem Grund, dazu die Worte „Atomkraft? Nein danke“. Demonstranten hatten sie aufgehängt vor dem Delegiertentreffen in Bonn, um Druck zu machen vor der Entscheidung der Partei über die Frage, ob zumindest zwei Atomkraftwerke in Deutschland auch im kommenden Jahr noch laufen sollen.

Doch schwerer als die eigene Geschichte und die grundlegende Ablehnung der Kernkraft wog am Freitag auch bei den Grünen die aktuelle Krise. Die grünen Delegierten folgten der Parteispitze und machten den Weg frei für eine Einsatzreserve von zwei Kernkraftwerken über den Jahreswechsel hinaus.

Dass der Tag, an dem in Deutschland das letzte Atomkraftwerk vom Netz geht, ausgerechnet unter einer grünen Regierungsbeteiligung noch einmal nach hinten geschoben würde, das hätten sich viele Grüne zu Beginn der Ampel-Koalition nicht träumen lassen. Doch vor dem Hintergrund der Energiekrise sehen sie sich dazu gezwungen.

Grünen-Parteitag: „Was der Bundesvorstand vorgelegt hat, das ist eine Zumutung“

Kaum jemand verkörperte diese Zerrissenheit am Freitagabend so eindringlich wie Umweltministerin Steffi Lemke. „Was der Bundesvorstand vorgelegt hat, das ist eine Zumutung – auch für mich persönlich“, sagte sie vor den hunderten Delegierten über die Einsatzreserve, die Kabinettskollege Robert Habeck entworfen hatte.

Als sie ihr Amt übernommen habe, sei sie felsenfest davon ausgegangen, dass am 31. Dezember dieses Jahres in Deutschland das letzte Kernkraftwerk abgeschaltet wird. „Jetzt stehe ich hier vor einem grünen Bundesparteitag und werbe um eure Zustimmung für diese Zumutung.“ Lesen Sie auch: Energiekrise: Wer jetzt mit bis zu 4647 Euro entlastet wird

Sie habe sich sehr schwer getan mit dem Vorschlag, sagte die Umweltministerin. Doch wenn die AKW auch noch nur einen kleinen Beitrag leisten könnten in diesem Winter, „dann sollten wir in dieser schwierigen Situation nicht die Augen verschließen“. Lemke sprach damit offenbar vielen Grünen aus dem Herzen. Der Großteil der Rednerinnen und Redner in der Debatte argumentierte ähnlich: Atomkraft bleibe eine gefährliche, teure, nicht zukunftsfähige Form der Energie – aber in diesem Winter könnte sie noch für Monate hilfreich sein.

Demonstranten vor dem Grünen-Parteitag fordern ein Festhalten am Atomausstieg Ende 2022.
Demonstranten vor dem Grünen-Parteitag fordern ein Festhalten am Atomausstieg Ende 2022. © dpa | Thomas Banneyer

Gegner der Reserve warnten vor Anschlägen auf Atomkraftwerke

Doch es gab Gegenstimmen, wenn auch vereinzelt. Für einen Ausstieg wie geplant zum Jahresende plädierte unter anderem der Delegierte Karl-Wilhelm Koch. „Wir haben einen mühsam ausgehandelten Atomkonsens“, sagte er. „Diesen mühsam erhandelten Kompromiss geben wir jetzt auf, weil die FDP meint, an der Stelle Wahlkampf machen zu müssen.“ Vor dem Hintergrund der Lecks in den Nord Stream-Pipelines warnte er, dass Atomkraftwerke und Zwischenlager „extrem gefährdet“ seien als Ziele möglicher Anschläge auf Infrastruktur.

Überzeugen konnte er die Versammlung nicht. Die Delegierten stimmten mit großer Mehrheit am späten Freitagabend dafür, die Kraftwerke Isar II und Neckarwestheim in einer Reserve zu halten und bei Bedarf weiter zu nutzen.

Die Entscheidung passte zu einem Parteitag, auf dem Spitzengrüne immer wieder die Verantwortung der Partei in der Regierung betont hatten. „Die Grundlage grüner Politik ist Gerechtigkeit. Das Prinzip heißt Verantwortung“, sagte etwa Parteichefin Ricarda Lang. Und diese nähmen die Grünen an.

Für eine Lösung im Konflikt mit der FDP bleibt Habeck wenig Spielraum

Mit der Entscheidung für die Einsatzreserve stellten sich die Grünen hinter ihren Wirtschaftsminister Robert Habeck. Gleichzeitig zogen sie rote Linien ein, die diesem wenig Spielraum lassen im Konflikt mit der FDP: So ist im Beschluss der 15. April als definitives Ausstiegsdatum festgehalten.

Einer Verlängerung über dieses Datum hinaus und auch der Beschaffung von neuen Brennelementen erteilte die Partei eine klare Absage. „Neue Brennstäbe, einen Wiedereinstieg in die Atomkraft, das wird es mit uns nicht geben“, sagte Lang.

Eine Lösung im Atomstreit mit der FDP ist damit nicht einfacher geworden. Denn Finanzminister Christian Lindner fordert noch immer einen Weiterbetrieb bis 2024.

Dieser Text erschien zuerst auf morgenpost.de.