Köln. Inflation und Energiekrise treffen die Studierenden hart. Alina kommt noch über die Runden – doch die Sorge vor dem Winter ist groß.

Nachts, sagt sie, liege sie manchmal wach und fragt sich, wie das eigentlich weitergehen soll. Am Mittag danach sagt sie: „Ich muss mich mit Sachen auseinandersetzen, für die ich noch gar nicht bereit bin.“ Das sei ziemlich überfordernd.

Alina ist 20. Sie studiert Politikwissenschaften, Geschichte und Soziologie an der Rheinischen Friedrich-Wilhelm-Universität in Bonn. Vor einem Jahr ist sie mit ihrem Freund zusammengezogen, der in der IT-Branche arbeitet. Sie haben eine Wohnung in Köln gefunden. In einem zweistöckigen Siebzigerjahrebau. Ihr gefalle Köln besser als Bonn, sagt Alina. Mit dem Semesterticket kann sie umsonst zur Uni fahren. 40 Minuten hin, 40 Minuten zurück. Ob das im Wintersemester so bleibt? „Unter den Studierenden gibt es das Gerücht, dass die Uni schließen könnte, um Energie zu sparen.“

Inflation: „Ich bewege mich auf das absolute Minimum zu“

Sie sitzt auf einem grauen Ikea-Sofa, das sie bei Ebay gefunden hat, daneben ein Coca-Cola-Kühlschrank. Für einen jungen Menschen ist die Einrichtung des Wohnzimmers ungewöhnlich. An den Wänden hängen Bilder ihrer Ururgroßeltern in großen, Gold angestrichenen Holzrahmen und eine Collage mit Zeitungsartikeln, die so alt sein dürften wie die Porträts der Vorfahren. Auf einem flachen Sockel steht die lebensgroße Replik einer Ritterrüstung, um die sich eine Lichterkette windet.

Zwei übereinandergestapelte Paletten dienen als Tisch. Darauf ein Zettel. Die Studentin hat alle monatlichen Verdienste und Abgaben aufgelistet. Miete, Nebenkosten, Kosten für Lebensmittel, Katzenfutter, Fitnessstudio. GEZ, Netflix und eine Spende an eine Hilfsorganisation. Am Ende bleiben rund 180 Euro übrig. 180 Euro sind mehr, als andere Studierende zur Verfügung haben. Doch Alinas Sorgen sind groß, dass es wegen der Inflation und wegen der gestiegenen Heiz- und Stromkosten schnell weniger werden könnte. Deshalb legt sie so viel wie möglich zurück. Noch sei die finanzielle Situation verkraftbar, sagt sie. „Aber ich bewege mich auf das absolute Minimum zu.“

Deutschland: 30 Prozent der Studierenden leben unterhalb der Armutsschwelle

Inflation und Energiekrise treffen die Studierenden hart. Das Deutsche Studentenwerk warnt vor Existenznöten und berichtet, dass die psychosozialen Beratungsstellen an den Unis „förmlich überrannt“ werden. Immer öfter hört und liest man von Menschen, die überlegen, ihr Studium abzubrechen, weil vieles immer teurer wird. Miete, Heizung, Lebensmittel, Mensa-Essen. Und eine Krise verschärft die andere. Denn viele Studenten haben in der Corona-Pandemie ihren Nebenjob verloren. Das macht es nun umso schwieriger, Geld für die gestiegenen Kosten aufzubringen.

Alina studiert Politikwissenschaften, Geschichte und Soziologie in Bonn.
Alina studiert Politikwissenschaften, Geschichte und Soziologie in Bonn. © FUNKE Foto Services | Olaf Fuhrmann

Alina hat Glück. Zwölf Stunden pro Woche arbeitet sie als wissenschaftliche Hilfskraft beim Deutschen Zentrum für Luft und Raumfahrt. Hinzu erhält sie Kindergeld, aktuell 219 Euro. Ihre Eltern unterstützen sie finanziell, ansonsten wäre das Studium nicht zu bezahlen. Ohne Abzüge hat sie gut 1140 Euro im Monat und zählt damit zu den 30 Prozent der Studierenden in Deutschland, die unterhalb der Armutsschwelle von 1251 Euro netto im Monat leben, wie der Paritätische Wohlfahrtsverband festgestellt hat. Unvorhersehbare Ausgaben schmerzen sie daher umso mehr. „Letztens brauchte ich zum Beispiel ein Lehrbuch“, sagt sie. 20 Euro, die sie mehr ausgegeben hat.

Lebensmittel: Einkäufe ausschließlich im Discounter

Lebensmittel kauft sie im Discounter. Sie ernährt sich vegan. Weil Fleischersatzprodukte schon immer etwas teurer waren und nun noch teurer werden, muss sie zunehmend auf die Alternativen verzichten. „Seit einigen Monaten versuche ich, ausschließlich im Angebot einzukaufen“, sagt sie und entsperrt ihr Handy, öffnet WhatsApp. In einem Gruppenchat informieren sich Alina und ihre Familie gegenseitig über Rabattaktionen der Supermärkte. Vor wenigen Tagen hat ihre Mutter einen Prospekt von Aldi abfotografiert. Sauce Hollandaise für 79 Cent, rot eingekreist. „Wieder im Angebot“, schrieb die Mutter, dazu ein jubelndes Emoji.

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Aus der Küche sieht man das Rathaus und – wenn man sich weit genug aus dem Fenster lehnt – die Türme des Doms. Gute Lage, das ist nicht selbstverständlich. Köln ist teuer. Ein WG-Zimmer kostet hier im Schnitt 510 Euro. Für die Wohnung zahlt Alina 550 Euro im Monat, ihr Freund etwas mehr. Alle weiteren Kosten teilen sie sich zu gleichen Anteilen.

Im Freundeskreis wetten sie, wer als Letztes die Heizung anstellt

Alina öffnet den gelben Severin-Kühlschrank, einer der wenigen Gegenstände, den die beiden neu gekauft haben, als sie hier einzogen, und zieht einige Lebensmittel aus den Fächern. Tomaten: 4,99 Euro. Vegane Fischstäbchen: 2,99. Vegane Crème fraîche: 99 Cent. Sie schätzt, dass sie im Monat 15 Euro mehr für Nahrungsmittel ausgibt als zum Jahresbeginn.

Der Krieg in der Ukraine hat viele Gewissheiten umgeworfen. Etwa, dass das Gas aus Russland immer fließt. Dass man beim Duschen nicht an Robert Habeck denkt. Dass man bedenkenlos heizt. „Im Freundeskreis gibt es inzwischen einen Wettbewerb, wer die Heizung als Letztes anstellt“, sagt Alina und lacht. Und man begreift, wie ernst die Lage ist. Als die Temperaturen bereits fielen, saß sie mit zwei Pullis und einer Decke auf dem Sofa, erzählt sie. Ihre Hände wasche sie nur noch mit kaltem Wasser. Vom Versorger haben sie und ihr Freund Post erhalten. Für Strom und Gas mussten sie bislang 140 Euro im Monat abdrücken, zum Oktober hat sich der Abschlag auf 295 Euro erhöht.

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Energiekrise: Heizkostenzuschüsse nur für Bafög-Empfänger

„Ich bin froh, dass ich die Energiepauschale bekommen habe. Die hat mich wirklich gerettet“, sagt Alina. Für die nächsten drei Monate seien die Nebenkosten gedeckt. Dann ist da noch eine Einmalzahlung von 200 Euro, auf die sich die Bundesregierung Anfang September geeinigt hat. Bloß: Die Auszahlung läuft schleppend. Vermutlich wird das Geld im Januar auf Alinas Konto landen. Wissenschaftler sagen, dass es richtig sei, die Studierenden im dritten Entlastungspaket der Ampel-Koalition zu berücksichtigen. Doch der Betrag sei zu niedrig, weil er nur für zwei Monate reiche. Das beunruhigt auch Alina. „Die finanzielle Unsicherheit macht mir Angst.“

Die Heizkostenzuschüsse von 230 und 345 Euro für Bafög-Empfänger erhält sie nicht. Weil das Einkommen ihrer Eltern zu hoch ist, hat sie keinen Anspruch auf die Studienförderung. Das stört sie. „Ich finde, das sollte individueller geregelt werden. Meine Eltern versuchen, mich so gut es geht zu unterstützen, aber sie sind keine Großverdiener.“

Angst vor dem Herbst, dem Winter, der nächsten Rechnung

Im Oktober 2020 fing Alina mit dem Studium an, wenige Wochen vor dem zweiten Corona-Lockdown. Die Hörsäle: geschlossen. Ein halbwegs unbeschwertes Studentenleben kennt sie kaum. Zwar hat alles wieder geöffnet, aber was bringt das, wenn die Inflation das Geld auffrisst wie ein Bandwurm. Wenn man als junger Mensch abends kaum ausgeht, aus Angst vor dem Herbst, dem Winter, der nächsten Rechnung. Trifft sich Alina mit einer Freundin auf einen Kaffee, schaut sie vorher im Internet nach den Preisen. Schon länger will sie Töpfern lernen oder einen Tanzkurs besuchen. Discofox, vielleicht Pole-Dancing. Daran ist nicht zu denken. „Für Hobbys bleibt momentan kein Geld übrig.“

Im Sommer war Alina mit ihrer besten Freundin im Urlaub. Sieben Tage Lloret de Mar, Pilgerstätte der Feierwütigen. Sie zahlte 700 Euro. Einen Teil hatte sie zu Weihnachten bekommen, den Rest zusammengespart. Es war eine Jugendreise und fühlte sich wie eine Abi-Reise an. Zwölfstündige Busfahrt, Halbpension, Kakerlaken im Hotelzimmer. Das Buffet sei katastrophal gewesen, erinnert sie sich. „Es war ein komisches Gefühl, an einer Jugendfahrt teilzunehmen und mit lauter 16-Jährigen in einem Bus zu sitzen.“ Dennoch ist sie dankbar, dass das Geld überhaupt für eine Reise gereicht hat.

Dankbar über jeden gesparten Euro

Von ihrer Wohnung zum Rhein braucht man weniger als fünf Minuten zu Fuß. Der Weg führt durch die Altstadt. Es ist ein warmer Oktobertag, die Sonne scheint auf die vollen Terrassen der Restaurants. „Eigentlich ist es doch menschlich, dass man nicht immer zu Hause essen möchte“, sagt Alina. Kurzes Schweigen, sie zuckt mit den Schultern. „Tja, gerade alles nicht drin.“

Sie sitzt auf einer Mauer und blickt auf die andere Seite des Ufers. Das Wasser ist grau-bräunlich. Am Nachmittag sind hier mehrere Schulklassen und viele Touristen unterwegs. Alina trägt schwarze Schnürstiefel, weite Jeans und einen orangefarbenen Strickpulli. Ihre Haare sind rötlich gefärbt. Regelmäßig müsste sie dafür zum Friseur, wo Schnitt und Farbe gerne mal mit 120 Euro reinhauen. Das gibt ihr Budget nicht her. Darauf verzichten will sie aber auch nicht. Sie fühle sich sonst nicht wohl. Auf Ebay Kleinanzeigen hat sie jemanden gefunden, der für seine Friseurausbildung kostenlos Haare schneidet und färbt. Sie muss nur die Materialkosten zahlen. Sie knetet ihre Hände. „Ständig auf Preise zu achten, ständig auf irgendwas zu verzichten, all das stresst mich immer mehr.“

Eine Frau verteilt Gutscheine für einen Espresso in der Altstadt Rösterei, drückt Alina einen in die Hand. Von hier, am Ufer des Rheins, hat sie es nicht weit zum Café. Ob sie auch den zweiten Gutschein haben könnte, fragt sie. Alina ist dankbar über jeden Euro, den sie sparen kann.

Dieser Artikel erschien zuerst auf morgenpost.de.