Slowjansk. 81 Marschflugkörper und Raketen treffen die Ukraine. Das Akw Saporischschja hat keinen Strom mehr zur Kühlung: „Der Countdown läuft“.

Es ist kurz nach 2 Uhr morgens, als der Luftalarm durch die menschenleeren Straßen von Odessa gellt und Dmitriy Kopitskiy aufweckt. Der junge Mann schaut auf sein Mobiltelefon, er sieht: Der Alarm gilt für den gesamten Süden, Osten und das Zentrum der Ukraine. Gegen 2.40 Uhr heulen auch die Sirenen im Westen. Zehn Minuten nach 3 Uhr hört Kopitskiy mehrere Explosionen. Es ist der Beginn von massiven russischen Angriffswellen, wie sie die Ukraine seit langem nicht mehr erlebt hat.

Der russische Präsident Wladimir Putin lässt die Angriffe verschärfen. Seine Langstreckenbomber, die über dem Asowschen Meer operieren, und im Schwarzen Meer liegende Kriegsschiffe der russischen Marine schießen insgesamt 81 Marschflugkörper und Raketen in die Ukraine, berichtet das ukrainische Militär nach dem Angriff. Darunter sollen auch sechs moderne Hyperschall-Raketen des Typs Ch-47M2 Kinschal sein, extrem schwierige Ziele für die ukrainische Luftabwehr.

Ukraine-Krieg: Die erste Angriffswelle trifft Odessa, Mykolajiw, Cherson

Der flächendeckende Angriff kommt für viele Analysten überraschend. Es hatte in den vergangenen Wochen den Anschein, als habe Moskau Abstand von der Strategie der gezielten massenhaften Bombardierung ziviler Infrastruktur genommen. Zum einen, weil die ukrainische Luftabwehr auch dank der Lieferung moderner Systeme wie dem deutschen Iris-T immer effektiver geworden ist. Zum anderen, weil die Bevölkerung nicht demoralisiert werden konnte, obwohl die Ukrainer immer wieder unter massiven Stromausfällen leiden mussten.

Die erste Angriffswelle trifft Odessa, Mykolajiw und das im November befreite Cherson im Süden des Landes. Einige Stunden später bekommt es die Hauptstadt Kiew ab. „Wir haben eine heftige Explosion gehört. Da haben wir unsere beiden Kinder aus dem Bett geholt und sind in den Korridor gerannt“, erzählt Kateryna, 33. Die Korridore in den Wohnungen bieten bei Luftangriffen den besten Schutz, wenn man es nicht in einen Luftschutzkeller schafft. Dort gibt es keine Fenster.

In Kiew fällt zwischenzeitlich der Strom aus

„Wir haben unsere schlafenden Kinder in den Armen gehalten“, berichtet Kateryna. Das Geschoss explodiert im südlichen Bezirk Holosilvsky in einem Wohnviertel, in dem ihre Eltern leben: „Zum Glück ist ihnen nichts passiert.“

Ebenfalls in Kiew wird Maria, 35, durch die Explosion wach. Sie bleibt danach wach, verfolgt angespannt die Nachrichten. „Gerade, als ich mich wieder hinlegen und schlafen wollte, habe ich ein sehr seltsames Geräusch gehört, etwas ist über uns hinweg geflogen. Ich bin voller Angst nach unten gerannt, in die Eingangshalle unseres Wohnblocks.“ Kurze Zeit später knallt es erneut extrem laut. „Ich habe gedacht, wir sind wieder getroffen worden. Aber es war unsere Luftabwehr, die die Rakete vom Himmel geholt hat.“´

Die ukrainische Hauptstadt kommt in dieser Nacht einigermaßen glimpflich davon. Nur ein Geschoss erreicht das Ziel, kurzfristig fällt in Teilen Kiews der Strom aus, drei Menschen werden verletzt. In der Region Lwiw ganz im Westen sterben hingegen vier Menschen, als ein Geschoss in einem Wohnhaus einschlägt, aus der Region Dnipro melden die ukrainischen Behörden ein Todesopfer.

LandUkraine
KontinentEuropa
HauptstadtKiew
Fläche603.700 Quadratkilometer (inklusive Ostukraine und Krim)
Einwohnerca. 41 Millionen
StaatsoberhauptPräsident Wolodymyr Selenskyj
RegierungschefMinisterpräsident Denys Schmyhal
Unabhängigkeit24. August 1991 (von der Sowjetunion)
SpracheUkrainisch
WährungHrywnja

Der Diesel im Akw reicht für zehn Tage: „Der Countdown hat begonnen“

Die russischen Streitkräfte nehmen bei diesen Angriffswellen Ziele in der gesamten Ukraine ins Visier, erneut vor allem die Energieinfrastruktur. Auch das von den Russen besetzte Atomkraftwerk Saporischschja im Südosten des Landes wird in Mitleidenschaft gezogen. „Als Resultat der russischen Raketenangriffe wurde die letzte Leitung zwischen dem besetzten Kernkraftwerk und dem ukrainischen Stromnetz getrennt“, berichtet der ukrainische Atomkonzern Energoatom am Morgen nach dem Angriff.

Die Folge: Einmal mehr müssen die letzten beiden Blöcke des Meilers, die noch Strom produzieren, kalt heruntergefahren werden. Den Strom für die Kühlung liefern jetzt 18 Dieselgeneratoren. Fallen auch sie aus, droht eine Kernschmelze. Der Diesel reicht für zehn Tage. „Der Countdown hat begonnen“, schreibt Energoatom.

Eine Rakete schlägt in der Hauptstadt Kiew ein. Die Rauchentwicklung ist von der Autobahn aus zu sehen.
Eine Rakete schlägt in der Hauptstadt Kiew ein. Die Rauchentwicklung ist von der Autobahn aus zu sehen. © AFP | SERGEI SUPINSKY

Von den 81 Geschossen, die die russischen Streitkräfte abgefeuert haben, kann die ukrainische Luftabwehr 34 abschießen. Außerdem zerstören die ukrainischen Verteidiger nach eigenen Angaben vier von insgesamt acht Kamikaze-Drohnen iranischer Bauart, die als fliegende Bomben in die Ziele gesteuert werden. Es ist eine Abschussquote, die schlechter als die bei den vorhergehenden flächendeckenden Luftangriffen ist. Neben den schwer zu treffenden Hyperschallraketen setzen die Russen an diesem Donnerstagmorgen auch modifizierte S-300-Raketen ein, die eigentlich für die Luftabwehr konzipiert sind. Auch sie sind schwer zu treffen.

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„Das war einer der längsten Luftalarme, den ich während des Krieges erlebt habe“

Warum die russischen Streitkräfte nach einem Monat erneut auf die eigentlich wenig erfolgreiche aber extrem kostenaufwändige Strategie der flächendeckenden Luftangriffe zurückgreifen, ist unklar. In den vergangenen Monaten war viel über eine bevorstehende russische Großoffensive in der Süd- und Ostukraine spekuliert worden. Diese ist bislang ausgeblieben. Der Terror aus der Luft scheint derzeit alles zu sein, wozu die russischen Streitkräfte noch in der Lage sind.

Der Luftalarm in der Ukraine endet am Donnerstag erst um 7 Uhr morgens. „Das war einer der längsten Luftalarme, den ich während des Krieges erlebt habe“, sagt Dmitriy Kopitskiy, der junge Mann aus Odessa. Am Donnerstagmittag heulen die Sirenen in der Ukraine erneut. Es heißt, in Belarus seien russische Kampfflugzeuge aufgestiegen.

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