Przewodów. Nach dem Raketeneinschlag herrscht jetzt Trauer und nicht Angst im Dorf Przewodów. Ein Ortsbesuch an der Grenze zur Ukraine.

Das polnische Grenzdorf Przewodów wirkt zwei Tage nach dem Einschlag der Rakete fast gespenstisch. Über Nacht legte sich Schnee auf die Dächer und Gärten des kleinen Ortes an der Grenze zur Ukraine, es ist eingehüllt in eine leichte Nebelfront und blaues Licht der Polizeiwagen leuchtet. Aus der Ferne zeichnet sich ein oranges Zelt vor den Silos ab, neben dem die Rakete einschlug. Menschen in weißen Kitteln, uniformierte Soldaten und Polizisten verschwinden immer wieder darin. Der Bereich davor ist weiträumig abgesperrt.

Ukraine-Krieg – Hintergründe und Erklärungen zum Konflikt

In den umliegenden Äckern suchen Soldaten in Dreiertrupps nach Splittern. Man sieht sie von der Hauptstraße aus, die in und durch das Dorf führt. Der Straßenrand ist gesäumt von einzelnen Häusern mit großen Hofeinfahrten. Viele davon sind landwirtschaftliche Betriebe, Traktoren und Enten in den Hofeinfahrten zeugen davon.

Der Ukraine-Krieg ist ganz nah

Der Asphalt verläuft kurvenförmig in eine Senke neben einer Kirche, deren weißes Kreuz auf dem Dach in den Himmel ragt. Bis Montag kannte niemand diesen Ort. Dann schlug die Rakete ein und schleuderte das 400-Seelen-Dorf aus der Bedeutungslosigkeit. Nun geht er als jener Ort in die Geschichte ein, das beinahe Zentrum eines großen Kriegs geworden wäre.

Der 60-jährige Stanislaw Ivanenko kannte die beiden Toten.
Der 60-jährige Stanislaw Ivanenko kannte die beiden Toten. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Der 60-jährige Stanislaw Ivanenko schiebt an diesem Donnerstag sein verrostetes Fahrrad den kleinen Hügel hinauf in Richtung des Supermarkts in dem Dorf, vorbei an den Kameras der zahlreichen Journalisten. Manche fotografieren ihn, machen Filmaufnahmen.

Die beiden Bogdans kannte jeder im Dorf

Er ist fast der einzige Dorfbewohner, der sich auf die Straße traut. Ivanenkos Schritt ist langsam, sein Blick gesenkt, als er über seine Freunde spricht. Er habe in den vergangenen beiden Tagen viel geweint, sagt er mit leiser Stimme. „Ich verstehe einfach nicht, weshalb die beiden sterben mussten.“

Am Montagnachmittag gegen 15.40 Uhr schlug eine Rakete auf dem Gelände eines Getreidespeichers nur wenige Meter entfernt von dem Supermarkt ein. Es soll sich laut Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg um eine ukrainische Luftverteidigungsrakete gehandelt haben. Zwei Männer starben bei der Explosion: der 62-jährige Bogdan W. und der 60-jährige Bogdan C. Die beiden Bogdans kannte fast jeder im Dorf.

Stillstand, Rückzug, das Dorf teilt sich in zwei Hälften

Auch deshalb ist die Trauer in Przewodów an den Tagen danach größer als die Angst, dass weitere Raketen vom Himmel fallen könnten. Wer sich umschaut, weiß warum. Die Menschen sind zusammen aufgewachsen oder haben schon zusammengearbeitet. Einer der beiden Männer soll an der örtlichen Schule geputzt haben und später eben als Lagerarbeiter in der Trocknungsanlage. Viele der Menschen leben hier seit Generationen. Deshalb – so heißt es – gebe es auch einen guten Zusammenhalt in der Gemeinde. Das zeige sich etwa bei der Ernte in diesen Tagen, bei der man sich gegenseitig unterstütze.

Robert und seine Ehefrau Helena kannten die beiden Männer, die bei der Explosion ums Leben kamen.
Robert und seine Ehefrau Helena kannten die beiden Männer, die bei der Explosion ums Leben kamen. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Robert und seine Ehefrau Helena sind zu Fuß aus dem rund einen Kilometer entfernten Nachbarort nach Przewodów gekommen, um in dem Supermarkt einzukaufen. Ihre Nachnamen und ihr Alter wollen sie den Medien gegenüber nicht nennen. Robert sagt, er habe einen der beiden Verstorbenen gekannt. „Wir arbeiteten zusammen.“ Er hat Tränen in den Augen. „Wir waren Freunde und haben uns einen Tag davor noch gesehen“, sagt er und winkt dann ab. Mehr wolle er nicht dazu sagen, er wolle erst einmal Ruhe.

Die meisten Menschen bleiben in den Häusern

Während in den ersten Tagen viele neugierig vor die Haustür gingen, ist an diesem Donnerstag das Leben zum Stillstand gekommen. Die Menschen bleiben größtenteils in ihren Häusern oder hinter der Absperrung der Polizei, die das Dorf in zwei Hälften trennt – dort wo keine Journalisten zugelassen sind.

Auch der Supermarkt befindet sich hinter der Absperrung. Für wenige Minuten und ohne elektronische Geräte darf man dort allerdings einkaufen. An der Theke stehen zwei Frauen, eine von ihnen räumt Brot in das Regal. Die andere Verkäuferin bedient einen Soldaten, der nach Zigaretten fragt: L&M. Über die Rakete wollen sie nicht mehr sprechen und winken ab. Zu viel sei es ihnen in den vergangenen Tagen geworden.

Ukrainische Fachleute sollen Raketeneinschlag untersuchen

Während das Dorf mit der Trauer um die beiden Männer umgehen muss und sich nach Ruhe sehnt, meldet sich Wolodymyr Selenskyj, der Präsident der Ukraine, am Mittag in Kiew zu Wort. „Solange die Untersuchung nicht abgeschlossen ist, können wir nicht mit Sicherheit sagen, welche Raketen oder deren Teile auf polnisches Hoheitsgebiet gefallen sind“, sagt er und bleibt auch bei seiner Behauptung, dass es sich womöglich doch um eine russische Rakete handelte. Deshalb sollen schon bald auch ukrainische Fachleute an der Untersuchung des Raketeneinschlags in Polen teilnehmen.

Ivanenko interessiert es nicht, ob es sich bei dem Einschlag um eine russische oder ukrainische Rakete gehandelt hat. Er wolle nur in Ruhe trauern und hoffe, dass die vielen Polizisten und Soldaten bald wieder aus dem Dorf abziehen. Auch an seinem Zuspruch für die Ukraine werde das nichts ändern. Er sagt, auch wenn ein Freund von ihm gestorben sei, werde er die Ukraine weiterhin innerlich unterstützen. Denn die Rakete wäre niemals, so sagt er, vom Himmel gefallen, wenn Russland die Ukraine nicht angegriffen hätte. Doch hat er Angst, dass so etwas noch mal passiert? Nein, er werde hier bleiben, weil eben hier auch das Haus seiner Großeltern sei und seine Freunde.

Dieser Artikel erschien zuerst auf morgenpost.de.

LandUkraine
KontinentEuropa
HauptstadtKiew
Fläche603.700 Quadratkilometer (inklusive Ostukraine und Krim)
Einwohnerca. 41 Millionen
StaatsoberhauptPräsident Wolodymyr Selenskyj
RegierungschefMinisterpräsident Denys Schmyhal
Unabhängigkeit24. August 1991 (von der Sowjetunion)
SpracheUkrainisch
WährungHrywnja