Berlin. Hohe Energiekosten treffen den Handel. Welche Waren zu Weihnachten knapp werden und warum manche Schaufenster im Winter dunkel bleiben.

Erst Corona, dann der Ukraine-Krieg und nun die Energiepreis-Explosion: Wie die aktuellen Krisen den Einzelhandel treffen und was Verbraucher beim Einkaufen zu erwarten haben, sagt der Hauptgeschäftsführer des Handelsverbands Deutschland (HDE), Stefan Genth, im Gespräch mit unserer Redaktion.

Die Inflation ist hoch, die Energiepreise steigen. Was bedeutet dies für den Handel?

Stefan Genth: Für den Handel ist dies eine Riesenherausforderung, da er zweifach betroffen ist. Einerseits müssen Verbraucher mehr für Energie ausgeben und können weniger Geld in ihre Einkäufe investieren. Andererseits sind auch die Unternehmen selbst von den steigenden Preisen belastet. Die Kosten können im harten Wettbewerb untereinander oft nicht komplett auf die Preise aufgeschlagen werden, weil der Konsum dann noch schlechter laufen würde.

Spüren Sie bereits eine Kaufzurückhaltung bei den Kunden?

Genth: Die Konsumstimmung ist im August so schlecht wie nie zuvor. Selbst jene, die Geld haben, geben weniger aus. Und dies, obwohl die Kaufkraft eigentlich vorhanden ist. Immerhin haben die Deutschen während der Corona-Krise 100 Milliarden Euro zusätzlich gespart.

Wo sehen Sie die Gründe für den Kauffrust?

Genth: Die Corona-Krise und nun der Ukraine-Krieg sorgen für eine negative Stimmung. Die steigenden Preise für Lebensmittel, Benzin und Energie haben das Budget für den Konsum geschmälert. Viele kaufen jetzt stärker preisorientiert bei Discountern oder Supermärkten ein. Auch etwas teurere Bio-Waren sind nicht mehr so stark gefragt.

Welche Bereiche sind von Umsatzrückgängen besonders betroffen?

Genth: Nach 2 Jahren Corona konnte der Handel in diesem Jahr wieder in weiten Teilen das Vorkrisenniveau erreichen – aber nicht überall. Im Bereich der persönlichen Ausstattung wie Bekleidung oder Schuhe liegen die Umsätze noch spürbar unter dem Niveau von 2019. Im Freizeitbereich wie Sport, Hobby, Fahrräder, Heim, Möbel, Bau und Garten läuft das Geschäft wiederum vielfach gut. Auch im Online-Geschäft sanken die Umsätze mit Beginn des Angriffskriegs deutlich.

Stefan Genth ist seit 2007 Hauptgeschäftsführer des Handelsverbandes Deutschland (HDE). Insgesamt erwirtschaften in Deutschland 300.000 Einzelhandelsunternehmen mit drei Millionen Beschäftigten an 450.000 Standorten einen Umsatz von rund 535 Milliarden Euro jährlich.
Stefan Genth ist seit 2007 Hauptgeschäftsführer des Handelsverbandes Deutschland (HDE). Insgesamt erwirtschaften in Deutschland 300.000 Einzelhandelsunternehmen mit drei Millionen Beschäftigten an 450.000 Standorten einen Umsatz von rund 535 Milliarden Euro jährlich. © dpa | Rolf Vennenbernd

Konnte der stationäre Handel Umsätze aus dem Online-Handel wieder zurückholen?

Genth: Nach der Wiedereröffnung der Läden hat sich die Online-Kurve deutlich abgeflacht, bleibt aber auf einem hohen Niveau.

Könnte es zu Weihnachten wieder Lieferengpässe für bestimmte Produkte geben?

Genth: Die Lieferketten ruckeln sich nur langsam wieder ein. 90 Prozent der Händler berichten weiter von Lieferschwierigkeiten. Vieles kommt später oder in der falschen Anzahl. Manche Produkte wie elektronische Geräte, Spielwaren und Textilien aus Asien dürften an Weihnachten knapper sein. Viele Schiffe hängen in Warteschlangen fest oder sind noch nicht wieder im Zeitplan. Hinzu kommt der weltweite Chipmangel, der die Produktion ausbremst.

Welche Mehrkosten erwartet die Branche durch die steigenden Energiekosten?

Genth: Ein Beispiel: Ein Supermarkt, der im vergangenen Jahr noch 70.000 Euro für Energie für die Kühlung, Klimaanlage und Heizung ausgab, hat jetzt bereits 140.000 Euro Kosten. Wenn dies so weitergeht, sind es bald 200.000 Euro. Dies sind massive Kosten, die nicht durch die Gewinnmargen von 1,5 bis 2 Prozent im Lebensmittelhandel aufgefangen werden können. Die Kosten können auch nicht einfach auf die Preise aufgeschlagen werden, ohne Kunden zu verlieren. Das Eigenkapital der Unternehmen wird daher weiter angezapft. Wieviel Mehrkosten die gesamte Branche durch die Energiepreissteigerungen hat, lassen wir gerade in einer Studie vom Fraunhofer Institut errechnen. Vor allem große Bau- und Möbelmärkte sowie Gartencenter werden oft mit Gas beheizt. Klar ist: Alle sind betroffen.

Hilft die Mehrwertsteuersenkung für den Gasverbrauch?

Genth: Positiv ist, dass sie den Konsum stützt. Wichtig sind jedoch statt Hilfen mit der Gießkanne auszuschütten, zielgenauere Maßnahmen. Zielgenau heißt, Niedrigverdiener durch Transferleistungen zu unterstützen. Aber auch den Mittelstand durch den Abbau der kalten Progression zu entlasten. Wir wünschen uns, dass auch die Stromsteuer von heute 2,05 Cent je Kilowattstunde auf das europäische Mindestmaß von 0,05 Cent abgesenkt wird. Diese Maßnahmen sind geeignet, die Kaufkraft zu stützen und die Beschäftigung zu sichern.

Welche Möglichkeiten haben Ladengeschäfte, effektiv Energie zu sparen?

Genth: Viele Läden sparen schon jetzt bewusst Energie ein. Besonders effektiv ist es, Klimaanlagen im Sommer nicht so kühl einzustellen und die Heizung im Winter nicht so stark aufzudrehen. Denn wir wissen, dass ein Grad weniger Raumtemperatur beim Heizen 6 Prozent Energie einspart. Mit der neuen Verordnung des Wirtschaftsministeriums ist es möglich, die Temperatur in den Läden auf bis zu 19 Grad herunterzufahren. Zudem sollten die Ladentüren nicht dauergeöffnet sein, um den Energieverbrauch zu senken. Beleuchtungen können auf LED umgestellt werden.

Was halten Sie davon, dass Schaufenster nachts nicht mehr beleuchtet sein sollen? Wäre eine Zeit zwischen 22 bis 6 Uhr vertretbar?

Genth: Mit der Schaufensterbeleuchtung sorgen wir auch für Sicherheit und soziale Verantwortung in den Städten – vor allen Dingen in den weniger frequentierten Zeitfenstern in der Nacht. Ebenso mit beleuchteten Werbeanlagen. Das Energiesparen darf an dieser Stelle nicht auf Kosten der Sicherheit gehen. Komplett dunkle Innenstädte halte ich deshalb für schwierig, hier ist Augenmaß gefordert.

Gibt es nach Corona noch einen großen Leerstand bei Läden?

Genth: Rund 25.000 Läden haben in der Pandemie ihren Betrieb eingestellt. Sie sind meistens still gestorben und haben Lücken in den Fußgängerzonen hinterlassen. Nur wenige haben ein Insolvenzverfahren durchlaufen, deshalb tauchen sie nicht in der Statistik auf. Es gibt selbst in guten Lagen in Großstädten noch Leerstände. In Klein- und Mittelstädten ist die Lage noch dramatischer. Insgesamt gibt es derzeit 330.000 Ladenstandorte.

Liegt es an zu hohen Mieten?

Genth: In den letzten 30 Jahren haben sich die Mieten immer verteuert - bis zu 300 Euro pro Quadratmeter in 1A-Lagen. Dieser Trend ist gestoppt. Das Mietpreisniveau geht zurück, weil man sieht, dass es für den Handel nicht möglich ist, solche hohen Mieten zu erwirtschaften. Vielfach steigen Vermieter jetzt auf Umsatzmieten um, bei denen sich der Mietpreis am Verkaufserfolg orientiert. Dies ist eine Anpassung auf ein betriebswirtschaftlich notwendiges Niveau, weil die Mieten ansonsten auch nicht mehr zu bezahlen wären.

Wieviel Personal hat der Handel wegen Corona abgebaut?

Genth: Wir konnten unsere Beschäftigten dank der Kurzarbeit halten und haben viele Mitarbeiter aus anderen Branchen wie der Gastronomie aufgenommen. Wir haben weiter einen großen Bedarf an Fachkräften und Azubis. Aktuell gibt es rund 56.500 offene Stellen im Einzelhandel – und damit rund 3300 mehr als vor der Pandemie. Zudem sind in den beiden Kernausbildungsberufen der Branche noch 35.000 Plätze unbesetzt. Der Handel ist mit 3 Millionen Beschäftigten der drittgrößte Arbeitgeber in Deutschland.

Wie wird sich das Geschäft bis zum Jahresende entwickeln?

Genth: Eine Prognose ist schwierig. Die nominalen Umsatzzuwächse sind derzeit vor allem durch gestiegene Verkaufspreise entstanden. Seriös lässt sich jedoch die Preisentwicklung im Einkauf nicht vorhersagen – und wie diese sich auf die Gewinnmargen niederschlägt. Real erwarten wir im Einzelhandel ein Minusgeschäft.

Dieser Text erschien zuerst auf morgenpost.de.