Weimar. Katie Mitchell inszeniert in „Zauberland“ eine Liebes- als Flüchtlingsgeschichte.

Reines Kopfkino. Fast nichts von dem aufwühlenden Drama, das wir in Katie Mitchells „Zauberland“ innerlich durchleben, spielt sich auf der kargen, finsteren Bühne ab. Der britischen Regisseurin glückt die noble Kunst, durch streng choreografierte szenische Andeutungen zur Musik von Robert Schumann und Bernard Foccroulle eine Wirkung zu erzeugen, die man in der Antike als Katharsis, als reinigende Seelen-Erschütterung, bezeichnet hätte.

Julia Bullock singt die „Dichterliebe“, den aus der Mode geratenen Liedzyklus auf Heine-Gedichte, mit wundervoll klarer, zart timbrierter Stimmführung und seismischem Gespür für die sublim eingebildeten Sehnsüchte nach einer fernen Liebschaft. Cédric Tiberghien begleitet sie als Lotse auf hyperrealen Gedankenpfaden und stiftet perlenden Anschlags agogische Orientierung. Als Kammermusik-Ausflug in die frühe Romantik wäre der Auftritt dieses Duos schon ein Gewinn.

Alles, was den Unterschied macht und assoziative Wahrnehmung reizt, kommt als Zugabe dazu. Der belgische Komponist Bernard Foccroulle hat das Schumannsche Emotions-Kaleidoskop aus 16 Liedern um ebenso viele ergänzt. Seine Tonsprache verrät ihn als affirmativen Bruder im Geiste, nur seine Mittel sind etwas moderner. Und dann, wie im Sog aus imaginierten Bildern, sehen wir plötzlich eine ganz andere, von der Regie-Influencerin Mitchell in uns erzeugte Geschichte.

Vier Schauspieler intervenieren beim Liederabend. Sie kleiden die Gesangssolistin an und um, schieben mal eine Bahre, mal ein Feldbett herein, legen sich zu ihr, stülpen ihr eine Rettungsweste über den Leib, hüllen sie in eine Decke. Plötzlich sind wir mitten im syrischen Krieg in Aleppo, dann in einem Lager im Libanon – oh Lilie und Rose, ihr Liebenden Schumanns! – leiden und beklagen die zahllosen Toten, innerlich empathisch vereint mit der Interpretin, die sich als Opfer und zugleich Täterin entpuppt, Nachbarn dem Feuertod überantwortet, sich der Vergewaltiger nicht erwehrt, und aus dem Abgrund erwachsen die Sehnsüchte hinaus übers Meer ins rettende, ja ursprünglich von Heine benamste, nun aus dem Dunst der Magie konturierte Zauberland: Europa.

Dort gäbe es endlich Geborgenheit? Über München, Köln, Aarhus bis Oslo führt die von Polizei und amtlichen Kontrollen behinderte Odyssee – und endet wieder in einem Holzhüttenlager. Ein Albtraum ist das, der in den Imaginationsräumen des Poetischen mit mindestens derselben gläsernen Sinnlichkeit über uns hereinbricht wie der Schumannsche süße Schmerz – bis das einzige gesprochene, finale Wort fällt: „Wach auf!“ Und ihr, der Geflüchteten, der wir uns vom DNT-Divan in west-östlichem, philanthropischem Perspektivwechsel anverwandelt haben, bleiben nur die unauslöschlichen Bilder im Kopf und die elektronischen im Speicher des Handy. Uns im Zauberland aber grellt harsch das Saallicht entgegen.

Aus der Traum. Nein – war er nicht wirklich? Wenn wir träumen, so glaubten die alten Griechen, geht unsere Seele spazieren. Nur war etwas anders an diesem Abend: Sie kehrte nicht als dieselbe zurück.