Berlin. Die Kerntechnologie muss in Deutschland eine Zukunft haben, sagt FDP-Fraktionschef Christian Dürr. Dafür will er das Gesetz ändern.

Atomausstieg? Grundfalsch, findet Christian Dürr, Vorsitzender der FDP-Fraktion im Bundestag. Im Interview sagt er, wie die Kernfusion zu einer wichtigen Säule der Energieversorgung werden kann – und wann er mit dem ersten Fusionskraftwerk in Deutschland rechnet.

Ist der Atomausstieg unumkehrbar, Herr Dürr?

Christian Dürr: Für eine Verlängerung der Laufzeiten über den 15. April hinaus gibt es im Bundestag leider keine Mehrheit. Wir sollten uns aber die Option offenhalten, die Kernkraft weiter zu nutzen. Es wäre falsch, sofort mit dem Rückbau der Kernkraftwerke zu beginnen, die derzeit noch sicher laufen. Wir sollten die drei Meiler in Reserve halten für den Fall, dass wir bei der Energieversorgung in eine dramatische Situation geraten, wie wir sie im vergangenen Herbst hatten.

Wie lange soll es diese Akw-Reserve geben?

Dürr: Ein Ende des Krieges gegen die Ukraine ist nicht absehbar. Solange die Situation energiepolitisch angespannt ist, sollten wir die drei Kernkraftwerke in der Hinterhand haben. Wir sind auch deswegen gut durch den Winter gekommen, weil die FDP darauf bestanden hat, die Kernkraftwerke einige Monate länger am Netz zu lassen.

Was fürchten Sie, wenn Deutschland unwiderruflich aus der Kernenergie aussteigt? Einen Blackout?

Dürr: Der Wirtschaftsminister hat zugesagt, dass er kontinuierlich einen Stresstest macht und überprüft, ob die Netzsicherheit gewährleistet ist. Ein Blackout wäre für eine hochentwickelte Industriegesellschaft wie die deutsche eine Katastrophe. Dazu darf es nicht kommen.

Atomkraftwerke, die vom Netz gegangen sind, können nicht von heute auf morgen wieder hochgefahren werden.

Dürr: Spontane Blackouts dürfen gar nicht erst eintreten. Wir müssen reagieren, wenn sich abzeichnet, dass es keine ausreichenden Stromkapazitäten in Europa gibt. Daher sollten wir uns jetzt in Gesprächen mit anderen Ländern die Option auf Brennstäbe sichern, damit wir imstande sind, die drei Kraftwerke schnellstmöglich wieder hochzufahren.

FDP-Fraktionschef Christian Dürr setzt auf Kernfusion als Energiequelle.
FDP-Fraktionschef Christian Dürr setzt auf Kernfusion als Energiequelle. © dpa | Kay Nietfeld

Russland bietet Brennstäbe an …

Dürr: Russland ist kein Handelspartner mehr. Glücklicherweise gibt es auch westliche Hersteller – etwa in den USA und in Schweden.

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In anderen europäischen Ländern werden neue Atomkraftwerke gebaut. Wünschen Sie sich diese Möglichkeit auch für Deutschland?

Dürr: Die Nutzung der Kerntechnologie muss auch in Deutschland eine Zukunft haben. Dabei geht es nicht um die Kernreaktoren der 70er und 80er Jahre, sondern um neuere Generationen von Reaktoren – und insbesondere um das Thema Kernfusion. Hier ist Deutschland weit vorne, weil wir eine Spitzen-Lasertechnologie haben. Erste Versuchsreaktoren arbeiten damit erfolgreich.

Bei der Kernfusion sollten wir unsere Optionen deutlich erweitern. Es wäre mehr als ärgerlich, wenn bei der Großanwendung zur echten Stromproduktion andere Länder das Rennen machen. Ich will, dass in Deutschland einer der ersten Kernfusionsreaktoren entsteht. Dazu sollten wir den Einsatz der Kernfusion entbürokratisieren.

Soll heißen?

Dürr: Die Kernfusion fällt derzeit unter das Atomrecht – obwohl überhaupt keine hochradioaktiven Abfälle entstehen. Das ist etwas ganz anderes als Kernspaltung. Die Kernfusion produziert stabil umweltfreundliche Energie – unabhängig von Wind und Sonne. Darin sehe ich eine große Chance. Wir sollten einen eigenen Rechtsrahmen für die Kernfusion schaffen: ein Kernfusionsgesetz. Länder wie Frankreich und Großbritannien machen uns das schon vor. Das zeigt, dass wir schnell tätig werden müssen.

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Wann soll denn das erste deutsche Kernfusionskraftwerk ans Netz gehen?

Dürr: Der Staat entscheidet lediglich über die Rahmenbedingungen, und die müssen so einfach wie möglich sein. In welchem Jahr wir das erste Kernfusionskraftwerk bekommen, ob in zehn oder in 20 Jahren, kann man heute noch nicht absehen. Das ist eine Option für die Zukunft, die wir uns nicht nehmen lassen sollten. Der Nachteil bei Wind und Sonne ist, dass es immer noch keine ausreichenden und vor allem preisgünstigen Speichermöglichkeiten gibt. Dagegen ist die Kernfusion eine grundlastfähige Stromproduktion, der die Zukunft gehören kann.

Glauben Sie wirklich, dass die Kernfusion eine tragende Rolle im deutschen Energiemix spielen wird?

Dürr: Die Kernfusion kann eine wichtige Säule unserer Stromproduktion werden. Wir sollten uns nicht parteipolitisch auf bestimmte Energieformen festlegen. Zu den Technologien, die CO2-neutral produzieren können, gehören eben nicht nur Wind und Sonne, sondern auch die Kernfusion. Entscheidend ist, dass wir technologieoffen bleiben.

Die letzten noch aktiven Atomreaktoren in Deutschland gehen vom Netz. Doch FDP-Fraktionschef Christian Dürr glaubt, dass Kerntechnologie in Deutschland eine Zukunft haben kann – mit Kernfusion.
Die letzten noch aktiven Atomreaktoren in Deutschland gehen vom Netz. Doch FDP-Fraktionschef Christian Dürr glaubt, dass Kerntechnologie in Deutschland eine Zukunft haben kann – mit Kernfusion. © dpa | Sina Schuldt

Wie teuer wird diese Energie?

Dürr: Das entscheidet der Markt. Es geht nicht um Subventionen, sondern ums Ermöglichen. Private Investoren sind schon bereit, bei der Kernfusion ins Risiko zu gehen. Das ist immer ein gutes Zeichen. Wir wollen ja keine staatlichen Kernfusionsreaktoren bauen – und auch keine Subventionen verteilen.

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Sind Sie sicher, dass von der Kernfusion keinerlei Gefahr ausgeht?

Dürr: Ich bin zwar kein Physiker, sondern Ökonom. Aber richtig ist: Es fällt kein hochradioaktives Material an. Und der Prozess der Kernfusion kann – anders als die Kernspaltung - sofort gestoppt werden.

Herr Dürr, zwei Drittel der Bevölkerung – das zeigen Umfragen – sind mit der Ampelregierung unzufrieden. Wie wollen Sie aus der Krise finden?

Dürr: Die Zustimmung zur Bundesregierung bewegt sich auf dem Niveau der letzten Jahrzehnte. Natürlich freue ich mich, wenn es mehr Zustimmung gibt. Wir haben in diesem Winter gezeigt, dass wir eine Krise meistern können. Und mit der Planungsbeschleunigung beweisen wir, dass wir bei Energie- und Infrastrukturprojekten aus dem alten Trott der GroKo rauskommen können. Diese Langsamkeit der Vergangenheit macht Menschen und Unternehmen verrückt.

Der Koalitionsausschuss hat 30 Stunden getagt, sich aber nicht einmal über die Finanzplanung verständigt. Wofür soll Geld da sein – und wofür nicht?

Dürr: Wir haben mit diesem Koalitionsausschuss eines der größten Modernisierungspakete auf den Weg gebracht, das Deutschland je gesehen hat. Vor diesem Hintergrund sind die 30 Stunden fast schon Lichtgeschwindigkeit. Der Haushalt war nicht Thema des Koalitionsausschusses …

… eben!

Dürr: Wir werden den Bundeshaushalt für 2024 nach dem Sommer beraten. Bis dahin gibt es noch einmal eine Steuerschätzung und Christian Lindner wird den ersten Entwurf vorlegen. Im Übrigen gilt die Schuldenbremse. Wir müssen uns an das Grundgesetz halten. Schulden zu machen ist in dieser Phase steigender Zinsen extrem teuer geworden für den Staat. Je mehr Zinsen wir zahlen, desto weniger können wir in Bildung, Verteidigung und andere wichtige Aufgaben investieren.

Wie wichtig ist Ihnen die Kindergrundsicherung?

Dürr: Wir brauchen endlich ein Konzept der Familienministerin, wie das Geld für Kinder unkompliziert abgerufen werden kann. Es geht bei der Kindergrundsicherung nicht in erster Linie um eine weitere Erhöhung der Bezüge. Familien, die es ohnehin schwer haben, dürfen vor allem nicht vor eine bürokratische Wand gestellt werden.

Was haben die Kommunen zu erwarten, die mehr Geld für die Unterbringung von Flüchtlingen fordern?

Dürr: Hier sehe ich ausdrücklich die Länder in der Pflicht, deren Steuereinnahmen sich deutlich besser entwickelt haben als die des Bundes. Die Ausführung der Bundesgesetze liegt nach unserem Grundgesetz bei den Ländern, dafür erhalten sie ja auch eigene Steuereinnahmen. Daher sind auch die Ministerpräsidenten für die Finanzierung zuständig. Trotzdem hat der Bund 2022 und 2023 über sechs Milliarden Euro für Geflüchtete zur Verfügung gestellt. Ich würde mir von den Ministerpräsidenten wünschen, dass sie noch einmal in die Gesetze schauen – und erkennen, dass sie zuständig sind für die Ausstattung der Kommunen.