Berlin. Nach dem Rücktritt von Susanne Hennig-Wellsow versinkt die Linke in einer Krise, deren Ausmaß sogar die ganze Partei gefährden könnte.

Gerade einmal 417 Tage war die Frau, die doch eigentlich die Linke erneuern wollte, im Amt. Susanne Hennig-Wellsow, erst Anfang 2021 zur Co-Parteichefin gewählt, hat ihren Rücktritt erklärt, schnörkellos, wie es ihre Art ist, per Statement auf ihrer Webseite. Nach desaströsen Wahlergebnissen und bitterem Streit um den Umgang mit dem Ukraine-Krieg ist ihr plötzlicher Abschied weiteres Zeichen dafür, wie tief die Krise der Linken wirklich ist – und dürfte sie gleichzeitig noch vertiefen.

Drei Gründe nannte Hennig-Wellsow für ihre Entscheidung: Ihre private Lebenssituation erlaube es derzeit nicht, so viel Kraft und Zeit für die Partei aufzubringen, wie diese eigentlich brauche. „Ich habe einen achtjährigen Sohn, der mich braucht, der ein Recht auf Zeit mit mir hat“, schrieb sie in ihrer Erklärung. Zweitens sei angesichts der schwierigen Phase für die Linke eine Erneuerung der Partei nötig, „und diese Erneuerung braucht neue Gesichter, um glaubwürdig zu sein.“

Hennig-Wellsow: „Eklatante Defizite“ beim Umgang der Partei mit Sexismus

Die größte Sprengkraft allerdings hatte der dritte Grund: „Der Umgang mit Sexismus in den eigenen Reihen hat eklatante Defizite unserer Partei offen gelegt“, schreibt sie. „Ich entschuldige mich bei den Betroffenen und unterstütze alle Anstrengungen, die jetzt nötig sind, um aus der Linken eine Partei zu machen, in der Sexismus keinen Platz hat.“

Es ist nicht schwer zu erkennen, dass diese Passage sich auf Vorfälle bezieht, die in der letzten Woche publik wurden: Da berichtete der „Spiegel“, dass es beim hessischen Landesverband der Partei über Jahre hin zu sexuellen Übergriffen gekommen sei. Im Zentrum der Vorwürfe: Ein Wiesbadener Linken-Politiker – und Ex-Freund von Co-Parteichefin Janine Wissler.

2018, so schildert es das Magazin, soll er, während er mit Wissler liiert war, eine Affäre mit einer damals Minderjährigen begonnen haben. Laut dem Bericht nahm er Fotos und Videos der Frau in sexuellen Posen auf, überredete sie, sich beim Sex filmen zu lassen, obwohl sie das eigentlich nicht wollte. Als sie versuchte, die Beziehung endgültig zu beenden, soll er über den Balkon in die Wohnung der jungen Frau eingestiegen sein. Wissler habe sie darüber informiert – doch die habe nichts unternommen, so die Betroffene im „Spiegel“.

Empfohlener externer Inhalt
An dieser Stelle befindet sich ein externer Inhalt von X, der von unserer Redaktion empfohlen wird. Er ergänzt den Artikel und kann mit einem Klick angezeigt und wieder ausgeblendet werden.
Externer Inhalt
Ich bin damit einverstanden, dass mir dieser externe Inhalt angezeigt wird. Es können dabei personenbezogene Daten an den Anbieter des Inhalts und Drittdienste übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung

Janine Wissler bestreitet, schon damals von den Übergriffen gewusst zu haben

Wissler hat bestätigt, dass die junge Frau sie damals kontaktierte. Doch von sexuellem Missbrauch oder sexueller Gewalt sei nicht die Rede gewesen. Die Beziehung zu dem Mann habe sie damals beendet.

Es waren nicht die einzigen Vorwürfe. Laut Sarah Dubiel, Sprecherin der Jugendorganisation Solid, haben sich inzwischen mehr als 30 Personen aus verschiedenen Landesverbänden zu Wort gemeldet und ebenfalls von Übergriffen berichtet. Es kämen „immer wieder neue Meldungen dazu“, sagt Dubiel.

Der Parteivorstand versuchte, den Schaden zu begrenzen, doch es war zu spät: Die Enthüllungen und auch die Reaktionen aus der Partei zeichneten das Bild einer Organisation, die nicht willens oder in der Lage ist, mit Übergriffen in den eigenen Reihen angemessen umzugehen und Betroffene zu schützen.

Für die Linke kam der Bericht in einer Situation, in der sie ohnehin enorm unter Druck steht. Träumten im Wahlkampf noch einige von einer möglichen Regierungsbeteiligung der Partei, ist diese mit dem Krieg in der Ukraine in weite Ferne gerückt: Allzu schwer taten sich Teile der Partei, angesichts des Überfalls Russlands auf die Ukraine die alte Verbundenheit zu Moskau zu hinterfragen.

Ukraine-Krieg – Hintergründe und Erklärungen zum Konflikt

Sahra Wagenknecht gibt der Nato eine Mitschuld am Ukraine-Krieg

Bernd Riexinger, Ex-Parteichef, sprach sich gegen Waffenlieferungen aus, weil die das „Leid auf beiden Seiten“ vergrößern würden. Sahra Wagenknecht, prominentestes Gesicht der Partei, Riexinger in herzlicher Abneigung verbunden und immer wieder auf Konfrontationskurs mit der eigenen Parteispitze, gab noch Wochen nach dem Überfall der Nato eine Mitschuld. Einige Parteifreundinnen und -freunde reagierten entsetzt. Gregor Gysi, reagierte entsetzt auf eine Erklärung von Wagenknecht und anderen, warf ihnen „völlige Emotionslosigkeit“ vor.

Die Quittung für den Streit gab es bei der Landtagswahl im Saarland: In der einstigen Hochburg verlor die Linke 10 Prozentpunkte und landete mit 2,6 Prozent der Stimmen im Bereich der Kleinstparteien. Die Trendwende, die Partei nach dem bitteren Ergebnis der Bundestagswahl gebraucht hätte, blieb aus.

Nur dank einer Sonderklausel des Wahlrechts hatte es die Partei da überhaupt geschafft, trotz weniger als fünf Prozent der Stimmen als Fraktion im Bundestag zu bleiben, weil sie drei Direktmandate errang.

Die Linke fährt desaströse Wahlergebnisse im Bund und den Ländern ein

Doch der Fraktionsstatus ist prekär, denn eine Fraktion muss aus mindestens fünf Prozent der Abgeordneten im Bundestag bestehen. Aktuell liegt dieser Prozentsatz bei rechnerisch 36,8 Abgeordneten – die Linksfraktion hat nur 39 Mitglieder.

Kritisiert die Partei Wagenknecht und ihre Verbündeten zu deutlich, läuft sie Gefahr, dass diese gehen, und die Linke den Fraktionsstatus und damit viele parlamentarische Rechte verliert. Und so steckt die Partei fest – gelähmt durch die eigene Schwäche, tief zerstritten. Und jetzt mit nur noch einer Vorsitzenden, deren Glaubwürdigkeit tiefe Kratzer bekommen hat. Janine Wissler äußerte sich am Mittwoch zunächst nicht zu Hennig-Wellsows Rücktritt.

Die beiden nächsten bitteren Tage für die Partei stehen schon im Kalender. Auch bei den Landtagswahlen in NRW und Schleswig-Holstein im Mai wird es laut Umfrage nicht für den Einzug in den Landtag reichen.

Im Juni will sich die Partei dann zum Parteitag treffen. Dabei dürfte es vor allem um die vielen gleichzeitigen Krisen gehen, und auch ums Personal – Bundesgeschäftsführer Jörg Schindler hat bereits angekündigt, eine Neuwahl des Parteivorstands vorzuschlagen.

Dieser Artikel erschien zuerst auf www.waz.de