Berlin/Brüssel. Die Annexion der ostukrainischen Gebiete durch Russland steht bevor. Welche Optionen Putin hat, warum der Krieg noch lange dauern kann.

Nach dem Abschluss der Scheinreferenden in den russisch besetzten Gebieten der Ukraine erreicht der Krieg eine neue, gefährliche Etappe: Präsident Wladimir Putin wird die vier Regionen in wenigen Tagen zum russischen Staatsgebiet erklären – und damit einschließlich der Krim Anspruch auf ein Fünftel der Ukraine erheben. Künftige Angriffe auf dieses Territorium könnte Putin zu einem Angriff auf die Atommacht Russland erklären, mit entsprechenden Konsequenzen.

Offen ist nur der Zeitpunkt, an dem es brenzlig wird: Nachdem die Wahlkommissionen in den besetzten Gebieten Donezk, Luhansk, Saporischschja und Cherson wie erwartet Mehrheiten von über 90 Prozent für den Beitritt zu Russland gemeldet hatten, stellten die ersten Gouverneure am Mittwoch in Moskau entsprechende Anträge. Spätestens bis Dienstag werden die beiden Kammern des russischen Parlaments die Beitritte bestätigen. Möglicherweise wird Putin die - vom Westen nicht anerkannte - Annexion aber schon früher bekanntgeben. Und dann? Was hat der Kremlherrscher vor, droht eine schnelle Eskalation oder ein langer Krieg?

Option 1: Eskalation. Putin und seine Vertrauten spielen mit der Drohung, einen weiteren Vormarsch der ukrainischen Armee auf die besetzten Gebiete in der Ost- und Südukraine könnte Russland mit dem Einsatz von Atomwaffen beantworten. Putin hat das nur vage formuliert, sein Scharfmacher Dmitri Medwedew, Vize-Chef des Sicherheitsrates, erklärt jetzt aber: Die russischen Streitkräfte würden die „Verteidigung aller angeschlossenen Gebiete bedeutend verstärken“, auch durch die Anwendung strategischer Waffen. „Russland hat das Recht, Atomwaffen, wenn nötig, in vorgegebenen Fällen einzusetzen.“ Die Ukraine ist entschlossen, sich nicht einschüchtern zu lassen. Die Gegenoffensive gehe weiter, sagt Präsident Wolodomyr Selenskyi: „Wir bewegen uns vorwärts und befreien unser Land“. Brisant: Keines der vier Gebiete steht bisher unter voller Kontrolle der russischen Armee, die kündigt aber neue Vorstöße an. Die Kämpfe gehen weiter.

Auf dem Roten Platz in Moskau werden bei einer Militärparade russische ballistische RS-24 Yars-Raketen aufgefahren. Sie sind im Ernstfall für den Einsatz von Atomsprengköpfen vorgesehen.
Auf dem Roten Platz in Moskau werden bei einer Militärparade russische ballistische RS-24 Yars-Raketen aufgefahren. Sie sind im Ernstfall für den Einsatz von Atomsprengköpfen vorgesehen. © dpa | Alexander Zemlianichenko

Und dann? Westliche Geheimdienste sehen nach Angaben aus der Nato keinerlei Anzeichen, dass Putin den Einsatz von Atomwaffen vorbereiten lässt. In Berlin sagt Sicherheitsexpertin Claudia Major: „Das sind rhetorische Drohungen. Der militärische Nutzen für Putin wäre gering, aber die Kosten wären hoch.“ Der US-Militäranalyst Michael Kofman meint, ein Atomschlag sei „sehr unwahrscheinlich“, eine Eskalation sei „keine wirkliche Option für Putin“. Ausgeschlossen aber sei sie nicht: Wenn, dann werde Moskau eine Atomwaffe etwa über dem Schwarzen Meer zünden oder einen ukrainischen Militärflughafen angreifen, um Entschlossenheit zu demonstrieren, aber den Schaden zu begrenzen.

In der Nato ist die Einschätzung ähnlich: „Ein Atomwaffeneinsatz ist sicher nicht Putins erste Wahl“, sagt ein ranghoher Militär in Brüssel unserer Redaktion, „aber möglicherweise seine letzte“. Wenn Putin bei einem erfolgreichen Vormarsch der Ukraine vor einer schweren Niederlage stünde und um sein Amt fürchten müsste, könnte er zum Äußersten greifen – solche Szenarien hat die Nato schon vor dem Krieg durchgespielt. Allerdings wären die Kollateralschäden für Russland immens, von der internationalen Isolation bis zur weiteren Aufrüstung der Ukraine durch den Westen. Stünde die Führung dann noch hinter Putin? Der Präsident kontrolliert nur einen von drei Atomkoffern, über die anderen verfügen Verteidigungsminister Sergej Schoigu und Generalstabschef Waleri Gerassimow. Mindestens einer von ihnen müsste Putin grünes Licht geben. Sicher ist das nicht.

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US-Militäranalysten: Putins Rede war keine ausdrückliche Atom-Drohung

Die russische Strategie sieht den Einsatz von Nuklearwaffen für den Fall eines Atomangriffs vor und dann, wenn die Existenz des russischen Staates durch eine konventionelle Aggression bedroht wäre. Ein Verlust annektierter Gebiete fällt nicht zwingend darunter. Militärbeobachter glauben, dass Putin jetzt bewusst zweideutig Atomwaffen erwähnt. „Putin hat nicht gesagt, dass der russische Nuklearschirm auch die annektierten Gebiete schützt“, analysieren Militärforscher des amerikanischen Institute for the Study of War. „Putins Rede sollte nicht als ausdrückliche Drohung verstanden werden, dass Russland Atomwaffen gegen die Ukraine einsetzt, wenn die Ukraine ihre Gegenoffensive fortsetzt.“ Auch Jack Watling vom führenden britischen Militärforschungsinstitut RUSI betont, Putin habe seine Rhetorik nicht verschärft, solche Reden habe er schon früher gehalten. Für andere Eskalations-Optionen – etwa Anschläge auf die Energie-Infrastruktur des Westens – gilt indes: Russland ist mindestens ebenso verwundbar und müsste mit Gegenschlägen rechnen.

Option 2: Verhandlungslösung. Die Hoffnung, dass sich Kiew und Moskau auf einen Waffenstillstand und später auf mehr einigen, ist dahin. Putin hat mit Annexion und Teilmobilmachung sein Schicksal mit dem Kriegserfolg verknüpft, er kann „russisches“ Territorium kaum wieder preisgeben – die Ukraine aber wird angesichts des Kriegsverlaufs nicht bereit sein, den Gebietsverlust zu akzeptieren. Militäranalyst Kofman sagt: „Es gibt nichts mehr zu diskutieren. Putin kann nicht mehr zurück.“ Selenskyj hat Verhandlungen mit Putin nach der geplanten Annexion mehrmals ausgeschlossen. Mit Putin gebe es nichts mehr zu bereden.

Ukraine-Krieg – Hintergründe und Erklärungen zum Konflikt

Option 3: Langer Krieg. Viel spricht dafür, dass der Kremlherrscher einen anderen Plan verfolgt: Annexion und Teilmobilmachung sollen helfen, den Krieg weit ins nächste Jahr zu ziehen, womöglich noch viel länger. In einem Abnutzungskrieg soll der Ukraine die wirtschaftliche und militärische Kraft ausgehen, der Westen in seiner Energieknappheit und Eskalationssorge kriegsmüde werden. Schon die russische Teilmobilisierung wird der Ukraine einiges abverlangen, weil sie ihrerseits die Truppen aufstocken muss, um im Frühjahr den Invasoren standhalten zu können. „Die Europäer blicken auf den Winter. Putin auf das kommende Jahr“, sagt Militäranalyst Kofman.

Gerade einberufene russische Reservisten nehmen in Sevastopol auf der Halbinsel Krim an einer Abschiedszereomonie teil, bevor sie ihren Einsatz beginnen.
Gerade einberufene russische Reservisten nehmen in Sevastopol auf der Halbinsel Krim an einer Abschiedszereomonie teil, bevor sie ihren Einsatz beginnen. © AFP | Stringer

Mit der Teilmobilmachung werde Russland zumindest die Durchhaltefähigkeit der Armee verbessern. „Das zählt, das entscheidet, wie lange der Krieg dauert“, meint der Russland-Spezialist. Zunächst werde Putin versuchen, in den nächsten Wochen die stark geschwächten Verbände aufzufüllen; Anfang 2023 würden genügend Soldaten eingezogen sein, um neue Einheiten auch mit Spezialisten aufzustellen. Der Berliner Militärexperte Gustav Gressel und seine Kollegen vom Thinktank Europe Council on Foreign Relations befürchten: „Der Krieg wird wahrscheinlich viele Jahre dauern, auch wenn die Gewalt über die Zeit nachlassen dürfte.“ In einer neuen Studie warnen sie, Russland setze auf nur langsame Fortschritte am Boden und erwarte, dass steigende Energiepreise und die Flüchtlingswelle die öffentliche Unterstützung des Westens für die Ukraine schwächen werden. Die Experten mahnen, Europa müsse jetzt einen Langfrist-Kriegs-Plan aufstellen zur dauerhaften Unterstützung der Ukraine in diesem Konflikt.

Dieser Artikel erschien zuerst auf morgenpost.de.