Gotha/Altenburger Land. Familienforschung erfreut sich in Thüringen großer Beliebtheit. Die Vereinsmitglieder erkunden die Lebenswelt früherer Generationen.

Mit geübten Schritten steigt Gert Schreiber die steile Kellertreppe seines fast 300 Jahre alten Wohnhauses hinab. Es liegt am Rand des kleinen Dorfes Altmörbitz an der thüringisch-sächsischen Grenze. Unten angekommen, führt ein schmaler Gang ins Arbeitszimmer des Genealogen. Sorgfältig eingerahmte Urkunden und Fotografien aus vergangenen Tagen säumen die Wände.

Am hinteren Ende des Raumes führt eine kleine Tür in einen etwa 15 Quadratmeter großen Raum mit deckenhohen Regalen. Dort lagern in Archivkartons Tausende Hinterlassenschaften aus der Vergangenheit: Urkunden, Briefe, Tagebücher, Fotografien und Karten, deren Entstehungszeit teilweise bis ins 16. Jahrhundert zurückreicht. Die Sammlung bietet einen eindrucksvollen Einblick in das Lebenswerk des 76-jährigen Familienforschers.

Schreibers Interesse für Geschichte wurde bereits in der Kindheit geweckt. Nach dem Schulabschluss machte er das Hobby zum Beruf, studierte Geschichte und war unter anderem als Denkmalpfleger, Stadthistoriker, Chronist und Journalist tätig.

Gesamter Bestand digitalisiert und auf Datenträgern gespeichert

Während seiner gesamten beruflichen Laufbahn war die Ahnenforschung ein stetiger Begleiter: „Die Linie meiner Mutter, die aus dem Altenburger Land stammt, habe ich bis ins 16. Jahrhundert zurückverfolgt“, erzählt der Rentner stolz.

Mittlerweile geht die genealogische Arbeit weit über die Erforschung der eigenen Familie hinaus. 2012 gründete Schreiber gemeinsam mit Familienmitgliedern, Freunden und Bekannten den gemeinnützigen Verein „Pleißenländische Familie und Geschichte“ mit Sitz in Gotha. Schwerpunkt der Vereinsarbeit ist die Erforschung von Familien- und Ortsgeschichten im Raum des ehemaligen Herzogtums Sachsen-Gotha-Altenburg.

Prüfend blickt der Familienforscher auf zwei digitale Anzeigen neben der Eingangstür zum Archiv: „Wir haben einen Luftentfeuchter und ein Gerät zur Klimaüberwachung. Die fachgerechte Aufbewahrung ist für die Erhaltung des Archivguts unerlässlich.“

Falls die Originale durch unglückliche Umstände doch zerstört werden sollten, wurden besondere Sicherungsmaßnahmen getroffen: „Die Vereinsmitglieder haben mittlerweile den gesamten Bestand digitalisiert und auf Datenträgern gespeichert“, erzählt Schreiber begeistert. Seit den Anfängen der Computertechnik ist er ein großer Fan der digitalen Welt: „Mithilfe von speziellen Programmen können wir ruck zuck Datenbanken und Stammbäume erstellen und natürlich auch auf digitalisiertes Archivgut aus aller Welt zurückgreifen. Das ist wirklich eine tolle Entwicklung.“

Flickenteppich der deutschen Geschichte

Die Erforschung von Familien- und Ortsgeschichten im Altenburger Land ist bereits weit voran geschritten. Nun möchten die in Gotha ansässigen Mitglieder von „Pleißenländische Familie und Geschichte“ auch die Quellen der Residenzstadt verstärkt nutzen, sagt Schreiber: „So können wir auf für uns bisher unbekannte Dokumente zurückgreifen, unser Kontaktnetzwerk weiter ausbauen und die Quellen aus dem Vereinsarchiv mit anderen Genealogen teilen.“

Zu diesem Zweck ist der Verein seit April dieses Jahres Mitglied der „Arbeitsgemeinschaft Genealogie Thüringen“ (AGT), die 1984 in Weimar als Verein für Heimat-, Familien- und Wappenkunde unter dem Dach des Kulturbundes der DDR gegründet wurde. Seit 1990 ist sie offiziell als gemeinnütziger Verein tätig und hat ihren Hauptsitz im Haus der Genealogie am Brühl in Gotha.

Die Frage, was Thüringen für Genealogen besonders macht, ist für den AGT-Vorstandsvorsitzenden Christian Kirchner einfach zu beantworten: „In Thüringen spiegelt sich der durch die Kleinstaatlichkeit entstandene Flickenteppich der deutschen Geschichte besonders wider.“

Besucher aus dem Ausland suchen Vorfahren aus Thüringen

Die unzähligen Grafschaften, Residenzen und freien Städte hätten im Laufe der Zeit eigene kulturelle Spezifika entwickelt, die auch in der Gegenwart noch sichtbar seien und den Freistaat bis heute so vielfältig machen. „Andererseits war Thüringen als Herz des deutschen Siedlungsraumes Durchgangsgebiet für unterschiedliche Personen- und Berufsgruppen“, fährt der hauptberufliche Archivar fort. „Diese regelmäßigen Wanderungsbewegungen machen die Familienforschung umso spannender.“

Die AGT ist mit Arbeitsgruppen im Eichsfeld, in der Region um Erfurt und Arnstadt, im Gothaer, Eisenacher und Weimarer Land, in Mühlhausen und in Südthüringen tätig. „Wir sind bereits gut vernetzt, doch wünschten uns immer eine Regionalgruppe in Ostthüringen. Die Mitgliedschaft des Vereins Pleißenländische Familie und Geschichte mit Mitgliedern von Gotha bis ins Altenburger Land ist eine große Bereicherung für uns“, erklärt Kirchner.

Die knapp 170 Mitglieder der AGT kommen aber nicht nur aus Thüringen: „Wir haben oft Besucher aus dem Ausland, unter anderem aus Schweden, der Schweiz, den Niederlanden, den USA, aber auch Brasilien. Sie alle haben Vorfahren aus Thüringen, die aus verschiedenen Gründen ausgewandert sind.

Lesen alter Handschriften – eine für Genealogen unerlässliche Fertigkeit

Neben ihrer Funktion als Kontaktplattform offeriert die AGT auch weiterbildende Angebote. Jeden Mittwoch zwischen 14 und 18 Uhr empfängt Heino Richard alle Interessierten zur genealogischen Beratung im Haus der Genealogie und stellt kostenfrei sein Wissen und seine Erfahrung zur Verfügung. „Ich gebe Empfehlungen für die Recherche, verweise auf weiterführende Literatur, Archive und Internetseiten und gebe Hilfestellungen bei der Erstellung von Stammbäumen und Familienchroniken“, erklärt der 65-Jährige. Auch leistet er Unterstützung beim Lesen alter Handschriften – eine für Genealogen unerlässliche Fertigkeit.

Auch Gothas Oberbürgermeister Knut Kreuch ist seit fünf Jahren Mitglied der AGT und stolz, dass der Deutsche Genealogentag nach 1935, 1937 und 2015 in diesem Jahr erneut in Gotha stattfindet: „Mit vier Ausrichtungen ist Gotha unangefochtener Spitzenreiter in der Organisation des Genealogentages.“

Keine andere deutsche Stadt sei so eng mit der Genealogie verbunden: „Im Jahr 1763 erschien erstmals der Gothaische Genealogische Hofkalender, der unter dem Namen Der Gotha weltberühmt wurde“, erklärt der Oberbürgermeister, der seine eigene Namenslinie bis ins Jahr 1536 zurückverfolgt hat. „Der Gotha“ dokumentiert alle Adelsfamilien aus dem Gebiet des ehemaligen Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, Italiens, Frankreichs, der baltischen Staaten, des heutigen Polens und der Ukraine. Bis heute wird dieses genealogische Handbuch als Herkunftsnachweis des europäischen Adels genutzt.

Schreiber: „Die Genealogie ist wie ein Virus“

Kreuch erhofft sich vom 71. Deutschen Genealogentag in Gotha nicht nur eine erhöhte Aufmerksamkeit für die historischen und kulturellen Schätze der Stadt, sondern möchte auch ein jüngeres Publikum für die Genealogie begeistern. Mit dieser Hoffnung ist er nicht allein. Heino Richard würde gern Schüler in den genealogischen Beratungen betreuen, doch die meisten Interessenten seien Rentner: „Das ist klar, denn neben Interesse braucht man viel Zeit für die Familienforschung.“ Dieses Problem kennt auch Kirchner: „Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Kinder Feuer und Flamme sind, wenn das Thema in den Schulen angeschnitten wird. Aber wir konkurrieren mit vielen anderen Hobbys.“

Schreiber ist es bereits gelungen, nachfolgende Generationen mit ins Boot zu holen. Seine Enkelkinder sind ebenfalls Mitglieder von „Pleißenländische Familie und Geschichte“ und zeigen großes Interesse für die Familienforschung. Für Schreiber liegen die Gründe auf der Hand: „Die Genealogie ist wie ein Virus. Ist man erst mal angesteckt, wird man sie so schnell nicht wieder los.“

Kommentar: Identitätsstiftung und Inspiration

Deutscher Genealogentag 2019 in Gotha

Weitere Infos gibt es unter www.genealogie-thueringen.de Die Autorin ist Mitglied des Vereins „Pleißenländische Familie und Geschichte“, derzeit absolviert sie ein Volontariat bei der Mediengruppe Thüringen.