Weimar. Eine 45-minütige ARD-Doku widmet sich auch dem Weimarer Fall um einen Turntrainer, der im Vorjahr für Schlagzeilen sorgte.

Für die Macher der TV-Doku gibt es gar keinen Zweifel: Es war ein Versagen auf ganzer Linie. Weil Übungsleiter und Vereinsspitze nicht genau hinschauten, Hinweise von Eltern nicht ernst genug nahmen und sich mit fadenscheinigen Begründungen abspeisen ließen, konnte ein Turntrainer des HSV Weimar acht Jahre lang minderjährige Sportlerinnen sexuell missbrauchen. Erst nachdem sich eines der Opfer nach Jahren ein Herz gefasst und den Mann angezeigt hatte, wurde der Fall aufgedeckt und eine Lawine ins Rollen gebracht. An deren Ende musste sich der Täter im Spätsommer 2018 wegen sexuellen Missbrauchs in 82 Fällen vor dem Landgericht Erfurt verantworten.

Die ARD-Doku „Das große Tabu“, die am Samstagabend ausgestrahlt wurde, griff den Weimarer Fall noch einmal auf. Nicht nur, weil er exemplarisch für das steht, was offenbar in etlichen Sportvereinen passiert – einer unveröffentlichten Studie der Uniklinik Ulm zufolge gibt es im deutschen Sport ungefähr doppelt so viele Missbrauchsfälle wie in der katholischen Kirche. Sondern auch, weil der Fall nach wie vor nicht abgeschlossen ist und offenbar nicht allen Verantwortlichen bewusst ist, welche Schuld sie mit Untätigkeit auf sich geladen haben.

Vereinsvorsitzender weist den Eltern Schuld zu

Holger Lippner, der bis Mai 2019 insgesamt 15 Jahre lang an der Vereinsspitze gestanden hatte, sagt am Ende der 45-minütigen Doku, dass er bei sich und dem Vereinsvorstand kein Versagen sieht. „Wir hätten vielleicht etwas sensibler sein müssen“, räumt er ein. Zugleich weist er den Eltern Schuld zu, weil sie „nicht richtig zugehört“ hätten, wenn ihre Kinder etwas erzählten. Mit dem Fall des Turntrainers habe sein Rückzug nichts zu tun, er sei amtsmüde. Lippner, selbst Vater zweier HSV-Turnierinnen, sagt in dem Film, dass er zu naiv und das System des Täters zu kompliziert gewesen sei, um es zu durchschauen. „Das ist eine Ausrede“, findet dagegen die junge Frau, die als Erste Anzeige erstattete. „Das macht mich wütend.“

Nicht abgeschlossen ist der Fall, der aus Sicht von Autorin Andrea Schültke wie des Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung eigentlich einen riesigen Skandal hätte auslösen müssen, weil der Täter Revision gegen das Urteil des Landgerichts Erfurt einlegte. Es hatte ihn nach umfassendem Geständnis zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und acht Monaten verurteilt. Derzeit befindet sich der Täter auf freiem Fuß – der Haftbefehl wurde mit Auflagen ausgesetzt: Der Ex-Turntrainer darf keinen Kontakt zu Mitgliedern der HSV-Turnabteilung haben und keine Tätigkeiten mit weiblichen Kindern und Jugendlichen ausführen.

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Eine Entscheidung obliegt nun dem Bundesgerichtshof. Das Opfer, das von ihm schon mit 13 Jahren missbraucht wurde, ehe es nach Jahren die Taten anzeigte, nannte das „frustrierend“. Denn aus seiner Sicht zeige die Revision, dass sich der Täter „keiner Schuld bewusst“ sei.

Der HSV hat nach Bekanntwerden des Missbrauchs zwar sein Präventionskonzept überarbeitet und festgelegt, dass Übungsleiter ein erweitertes Führungszeugnis vorlegen und einen Ehrenkodex unterzeichnen müssen. Doch das reicht aus Sicht von Sportpsychologin Bettina Rulofs, die mit dem DJK-Ethik-Preis des Sports 2019 geehrt wurde und in der Doku zu Wort kommt, „nicht aus“. Es müsse in den Vereinen noch systematischer hingeschaut werden, wie zur Aufarbeitung auch gehöre, den Berichten von Betroffenen zuzuhören. Genau das unterstreicht auch Sabine Andresen, die Vorsitzende der Aufarbeitungskommission.

„Das große Tabu“: zu sehen in der ARD-Mediathek

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