Berlin. Verbände kritisieren die Entlastungspakete der Ampel: Bedürftige würden darin alleingelassen – mit Zusatzkosten von bis zu 1000 Euro.

Seit dem 1. September erhalten Pflegekräfte in Deutschland mehr Geld. Denn über die Pflegeversicherung abrechnen dürfen nur noch Einrichtungen, die ihre Pflege- und Betreuungskräfte mindestens nach Tarifhöhe bezahlen. Was den Mitarbeitenden zugute kommt, könnte sich nun allerdings ausgerechnet auf die Bedürftigen auswirken.

Zusammen mit weiteren Kosten aus der Inflation und der Energiekrise könnte die Pflege für viele Ältere und ihre Angehörigen unbezahlbar werden. Experten rechnen im schlimmsten Fall mit bis zu 1000 Euro Mehrkosten monatlich. Thomas Greiner, Präsident des Arbeitgeberverbands Pflege (AGVP), warnt: "Pflegebedürftige müssen vor einem drastischen Anstieg des Eigenanteils geschützt werden, sonst rutschen sie massenhaft in die Sozialhilfe."

Besonders von den Entlastungspaketen der Bundesregierung zeigten sich Verbände wie der AGVP enttäuscht. Die Ampel habe die dramatischen Folgen für die Pflegebedürftigen und ihre Familien offenbar nicht verstanden, so der Vorwurf. Doch um das Problem zu verstehen, muss man tiefer in die Zusammensetzung der Beträge in Deutschland eintauchen.

Empfohlener externer Inhalt
An dieser Stelle befindet sich ein externer Inhalt von einem externen Anbieter, der von unserer Redaktion empfohlen wird. Er ergänzt den Artikel und kann mit einem Klick angezeigt und wieder ausgeblendet werden.
Externer Inhalt
Ich bin damit einverstanden, dass mir dieser externe Inhalt angezeigt wird. Es können dabei personenbezogene Daten an den Anbieter des Inhalts und Drittdienste übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung

Pflegekosten: So setzen sich die Beiträge zusammen

Die gesetzliche Pflegeversicherung bezahlt nur einen Teil der anfallenden Kosten für Bewohnende eines Heims. Den Rest müssen die Bewohnenden oder ihre Angehörigen selbst zahlen. Die Zuzahlung setzt sich aus dem pflegebedingten Einrichtungseinheitlichen Eigenanteil (EEE), den Investitionskosten und den Kosten für Verpflegung und Unterkunft zusammen.

Im deutschen Durchschnitt lag die Zuzahlung 2021/2022 bei 2179 Euro und der EEE bei 912 Euro. Bereits hier treten zwischen den Bundesländern große Unterschiede auf: Betrug der pflegebedingte Eigenanteil in Sachsen-Anhalt etwa 672 Euro im Monat, waren es in Baden-Württemberg mit 1222 Euro fast doppelt so viel.

Pflege: In manchen Fällen 1000 Euro zusätzliche Kosten

Das ist nur ein Beispiel dafür, wie die Kosten bei den Pflegebedürftigen auch in Zukunft auseinandergehen können. "Wir kennen Fälle, in denen sich die Eigenanteile beim Eintritt einer Einrichtung in einen Tarifvertrag verdoppelt haben", sagt Martin Schreck, Pflegereferent beim Verband der Ersatzkassen (vdek) gegenüber "Spiegel Online".

In manchen Fällen müssten die Bedürftigen mehr als 1000 Euro zusätzlich zahlen. Gleichzeitig gäbe es auch welche, bei denen sich zunächst nichts ändere, weil die Einrichtungen ihre Kräfte bereits zuvor nach Tarif bezahlt hätten.

Empfohlener externer Inhalt
An dieser Stelle befindet sich ein externer Inhalt von einem externen Anbieter, der von unserer Redaktion empfohlen wird. Er ergänzt den Artikel und kann mit einem Klick angezeigt und wieder ausgeblendet werden.
Externer Inhalt
Ich bin damit einverstanden, dass mir dieser externe Inhalt angezeigt wird. Es können dabei personenbezogene Daten an den Anbieter des Inhalts und Drittdienste übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung

Allerdings: Neben den höheren Löhnen für Pflege- und Betreuungskräfte sind es auch die gestiegenen Energiepreise und allgemein höhere Preise infolge der Inflation, die die Kosten für Pflegebedürftige in die Höhe treiben. Egal, ob sie in einer Einrichtung oder zuhause gepflegt werden.

Pflegeeinrichtungen und Pflegedienste müssen seit September nach Tarifhöhe zahlen, um weiterhin mit den Pflegekassen abrechnen zu können.
Pflegeeinrichtungen und Pflegedienste müssen seit September nach Tarifhöhe zahlen, um weiterhin mit den Pflegekassen abrechnen zu können. © Marijan Murat/dpa

Pflegekosten: Entlastungspakete kommen nicht bei Pflegebedürftigen an

Verbände wie der AGVP kritisieren hier vor allem die Ampel-Koalition. Bei den drei Entlastungspaketen seien die Menschen in Pflegeheimen schlichtweg vergessen worden, so AGVP-Präsident Thomas Greiner: "Die Altenpflege lässt die Regierung vor dem Winter völlig kalt", sagte er Anfang des Monats.

Die Hilfen kämen kaum bei den Pflegebedürftigen an, so der AGBVP-Präsident – und wenn, dann könnten sie die zusätzlichen Kosten kaum tragen. "Wenn die Pflegebedürftigen ihre Konten geleert haben, um explodierende Eigenbeiträge zu zahlen, rutschen sie in die Sozialhilfe", so Greiner. Am Ende seien es die Kommunen, die für die Versäumnisse der Regierung aufkommen müssten.

Große Pflege-Reform 2017 kann Krisen von heute nicht stemmen

Da helfen auch die große Pflegereform aus dem Jahr 2017 und die gestaffelten Leistungszuschläge nichts. Die Regierung hatte damals entschieden, dass Heimbewohnende höhere Kostenzuschüsse von den Pflegeversicherungen erhalten, je länger sie in einer vollstationären Einrichtung leben.

Doch wie der Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz, Eugen Brysch, erklärt, können viele davon nicht mehr profitieren: "Laut dem Verband der Ersatzkassen versterben 30 Prozent seiner Versicherten im Pflegeheim im ersten Jahr", so Brysch. "Über alle Pflegekassen hinweg sind es aber 37 Prozent."

In den vergangenen sechs Monaten seien damit für über 300.000 Heimbewohnende die Kosten um monatlich 50 Euro gestiegen. "Alle zu zahlenden Kosten für ein Pflegeheim stiegen in den letzten sechs Monaten um monatlich 67 Euro und damit um 3,1 Prozent", resümierte Brysch. Die Lohnsteigerungen und die Inflationskosten seien dabei noch nicht einmal einbezogen.

Pflege: Verbände fordern dringend umfassende Reform

Angesichts der drohenden Kostenexplosion im Pflegebereich fordern die Verbände weitere Reformen der Bundesregierung. "Die Bundesregierung muss akzeptieren, dass der gesamte Pflege-Eigenanteil jetzt endlich von der Pflegeversicherung zu tragen ist", forderte Brysch. Gegenüber der "Bild"-Zeitung erklärte er zudem, sein Verband wolle eine Soforthilfe von 1000 Euro und einen dynamischen Inflationsausgleich bei den Pflegeleistungen.

Auch der Arbeitgeberverband Pflege will weitere Reformen. Auf Twitter wendete sich der Verband am Dienstag direkt an Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD): "Wann kommt die dringende Pflegereform?" Der reagierte zunächst nicht, hatte aber bereits am 6. September zu dem Thema getwittert.

"Tariftreue, bessere Personalschlüssel, beides sinnvoll, und hohe Energiepreise kosten Geld", schrieb Lauterbach demnach. "An Lösungen wird gearbeitet." Nur: Wann können Pflegebedürftige mit diesen rechnen? Immerhin ist der Winter nur noch wenige Wochen entfernt.

Scholz kündigt Entlastungen im Volumen von 65 Milliarden Euro an

weitere Videos

    Pflege: Ampel-Koalition plant finanzielle Hilfen

    Tatsächlich präsentierte die stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende Dagmar Schmidt am Dienstag gegenüber der "Bild"-Zeitung neue Vorschläge. Die Ampel-Koalition plane neue finanzielle Hilfen für die Pflege. Soziale Einrichtungen, Krankenhäuser und Pflegeheime sollen demnach im Herbst mit einem Schutzschirm unterstützt werden, wo es nötig sei. "Wenn es eng wird, legen wir hier auch noch hier eine Schippe drauf", so Schmidt.

    Die pflegepolitische Sprecherin der FDP-Fraktion, Nicole Westig, forderte dagegen Unterstützung für pflegende Angehörige. Ein großer Teil von ihnen warte dringend auf Entlastung, sagte sie der Zeitung. Westig forderte kurzfristige Lösungen wie die Dynamisierung des Pflegegeldes und auch Unterstützung, um die exorbitant gestiegenen Energiekosten stemmen zu können.

    Empfohlener externer Inhalt
    An dieser Stelle befindet sich ein externer Inhalt von einem externen Anbieter, der von unserer Redaktion empfohlen wird. Er ergänzt den Artikel und kann mit einem Klick angezeigt und wieder ausgeblendet werden.
    Externer Inhalt
    Ich bin damit einverstanden, dass mir dieser externe Inhalt angezeigt wird. Es können dabei personenbezogene Daten an den Anbieter des Inhalts und Drittdienste übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung

    Das alles ist eine komplizierte Angelegenheit, die die Bundesregierung angesichts andauernder Krisen zusätzlich in Bedrängnis bringen könnte. Sie zeigt aber auch: Wenn es in der Pflege Versäumnisse gibt, betreffen sie einen großen Teil der Bevölkerung. (mit afp)

    Dieser Artikel erschien zuerst auf morgenpost.de.