Berlin/Karlsruhe. Erst hat er den Mord an Regierungspräsident Lübcke gestanden, dann widerrufen: Nun werden Einzelheiten der ursprünglichen Aussage von Stephan E. bekannt.

Stephan E. trägt eine schwarze Sturmhaube. Sein Gesicht ist nicht zu erkennen. Nur die Augen, die in Richtung Fotografen schauen. Er trägt Handschellen und Fußfessel. Polizisten führen den mutmaßlichen Mörder des Regierungspräsidenten Walter Lübcke am Dienstag nach einem Termin beim Haftrichter ab. Der Bundesgerichtshof hat einen neuen Haftbefehl gegen E. erlassen und Untersuchungshaft angeordnet.

Das Geständnis, das der 45 Jahre alte Tatverdächtige noch vor einer Woche abgelegt hatte, soll er nun widerrufen haben. Das erklärte sein Anwalt auf Nachfrage unserer Redaktion. Am 2. Juni soll E. den hessischen Politiker durch einen Kopfschuss auf seiner Terrasse getötet haben.

Stephan E.: Schon 2017 und 2018 mit Waffe zu Walter Lübcke gefahren

In dem widerrufenen Geständnis soll der Tatverdächtige einem Bericht zufolge angegeben haben, die Tat schon seit Jahren erwogen zu haben. Mindestens zwei Mal, 2017 und 2018, sei Stephan E. demnach zum Kassler Regierungspräsidenten Walter Lübcke gefahren, mit der Waffe in der Tasche, berichten „Süddeutsche Zeitung“, NDR und WDR.

Hinterher sei er der zurückgezogenen Schilderung zufolge froh gewesen, die Tat nicht ausgeführt zu haben. Als er Lübcke schließlich doch ermordet habe, sei dies wortlos geschehen.

Anlass war möglicherweise eine Informationsveranstaltung über die Aufnahme von Flüchtlingen 2015, bei der Lübcke gesagt hatte, wer „die Werte“ nicht teile, könne das Land verlassen. Ausschlaggebend für die Idee seien dann die sexuellen Übergriffe auf Frauen in der Kölner Silvesternacht 2015/16 gewesen, aber auch der islamistische Anschlag mit mehr als 80 Toten 2016 in Nizza. Das alles habe ihn ungeheuer aufgewühlt, sagte E. den Angaben zufolge in seiner ursprünglichen Darstellung. Darüber geredet habe er mit niemandem, auch nicht mit den der Beihilfe verdächtigten Markus H. und Elmar J. Den Ausschlag gegeben habe dann der Mord von Islamisten an zwei jungen Frauen aus Norwegen und Dänemark im vergangenen Dezember in Marokko.

Aus der rechtsextremistischen Szene wolle sich E. laut seiner zurückgezogenen Aussage zwischenzeitlich gelöst haben, und zwar nach seiner Verurteilung wegen eines Angriffs auf Gewerkschafter 2009 in Dortmund, berichteten die Medien. Die Entscheidung, sich Waffen zu besorgen, habe er demnach bereits 2014 getroffen - um seine Familie vor der angeblich überhandnehmenden Kriminalität von Ausländern zu schützen.

E.s Freund H. soll ihn an J. vermittelt haben, der dann ein ganzes Arsenal an Waffen besorgt haben soll, darunter eine Maschinenpistole des Typs Uzi.

In dem zurückgezogenen Geständnis habe E. auch angegeben, der Mord tue ihm „unendlich leid“, niemand solle für seine Worte sterben müssen. Was er Lübckes Familie angetan habe, sei „unverzeihlich“, zitierten die Medien seine ursprüngliche Aussage.

In der Untersuchungshaft soll E. laut den Berichten von Depressionen berichtet haben und inzwischen auf die Krankenabteilung verlegt worden sein.

Keinen Grund für Widerruf des Mord-Geständnisses

Die Ermittler fanden eine Hautschuppe von Stephan E. an der Kleidung des Opfers. Ein möglicher Grund für den Rückzug des Geständnisses von E. könnte eine Strategie sein, die der Beschuldigte nun mit seinem neuen Anwalt, Frank Hannig, besprochen hat.

Gründe für den Widerruf der Aussage seines Mandanten nannte der Anwalt auf Nachfrage nicht. Rechtsanwalt Hannig ist kein Unbekannter: Laut einem Bericht des Recherchezentrums Correctiv war Hannig 2015 einer der Gründer des islamfeindlichen Pegida-Bündnisses in Dresden. Zudem trat Hannig bei den Kommunalwahlen im Mai in Sachsen auf einer parteiunabhängigen Liste an, auf der auch extrem Rechte antraten.

Zwei weitere Haftbefehle – aber keinen Verdacht auf terroristische Vereinigung

Neben Stephan E. hat die Bundesanwaltschaft im Mordfall Lübcke mittlerweile Haftbefehle gegen Elmar J. sowie Markus H. erwirkt. Der 43 Jahre alte Rechtsextremist Markus H. soll einer der beiden Helfer von Stephan E. sein. Die Ankläger werfen ihm vor, E. den Kontakt zu einem Waffenhändler – dem 64 Jahre alten Elmar J. – aus Nordrhein-Westfalen vermittelt zu haben.

Der Generalbundesanwalt (GBA) geht weiterhin davon aus, dass die Tat an Lübcke rechtsextrem motiviert war. Deshalb hat er die Ermittlungen übernommen. Allerdings: Trotz drei Beschuldigter sieht der GBA bisher offenbar keine dringenden Hinweise auf die Gründung einer terroristischen Vereinigung – er ermittelt wegen Mordes. Auf Nachfrage unserer Redaktion wollte sich die Bundesanwaltschaft dazu nicht äußern.

Wie stark war E. in die rechtsextreme Szene eingebunden?

Zentral für die Ermittlungen bleibt die Frage, wie stark der mutmaßliche Mörder in den vergangenen Jahren in die rechtsextreme Szene eingebunden war. Anfangs hieß es vonseiten der Sicherheitsbehörden, dass sich E. nach 2009 aus der Szene zurückgezogen habe, sei weder Verfassungsschutz noch Polizei seitdem aufgefallen.

Berichte über eine mögliche Teilnahme von Stephan E. an einem Treffen im März in Sachsen, auf dem auch Mitglieder der gewaltbereiten Gruppe „Combat 18“ gewesen sind, haben die Behörden bisher nicht bestätigt. Nach Informationen unserer Redaktion prüfen die Sicherheitsbehörden den Fall.

Beschuldigter Mitglied in völkischer „Artgemeinschaft“?

Nun ist eine weitere Gruppierung in den Fokus geraten, in der Stephan E. laut Berichten von „Welt“ und „taz“ noch bis 2011 Mitglied gewesen sein soll: die völkisch-nationalistische „Artgemeinschaft – Germanische Glaubens-Gemeinschaft wesensgemäßer Lebensgestaltung“.

Das Bundesamt für Verfassungsschutz soll demnach von der Mitgliedschaft gewusst haben. Möglicherweise kam die Information jetzt heraus, weil der Geheimdienst noch einmal alle wichtigen Akten zu Stephan E. nach Hinweisen durchforstet. Seit den 1980er-Jahren war E. als Neonazi in der Szene aktiv, wurde mehrfach auch wegen schwerer Gewalttaten auffällig und in einem Fall zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt.

Die „Artgemeinschaft“ ist noch aus einem anderen Ermittlungsverfahren bekannt: den NSU-Morden. Polizisten entdeckten in der Wohnung der NSU-Zelle um die verurteilte Beate Zschäpe einen handschriftlichen Zettel mit zehn Adressen rechtsextremer Organisationen, darunter die „Artgemeinschaft“. Die Ermittler vermuteten damals, dass diese Liste mögliche Empfänger von Spenden des NSU waren, die die Gruppe durch Banküberfälle erbeutet hatte.

Bei einem NPD-Abgeordneten in Schwerin fanden Polizisten 2012 eine Kopie eines Briefes, Adressat: der NSU. Die Räume der „Artgemeinschaft“ durchsuchten die Polizisten damals jedoch nicht. Nach Angaben der Bundesanwälte fehlte ein Tatverdacht gegen eine konkrete Person, um eine Durchsuchung zu rechtfertigen.

Kreise: Stephan E. war 2015 bei Lübckes Asyl-Veranstaltung

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