Trier/Düsseldorf. Eine Million Familien in Deutschland kümmern sich um chronisch kranke oder behinderte Kinder. Netzwerke suchen individuelle Lösungen.

„Ja, der Jim“, sagt Vater Christian Kasel und schaut in die Leere. Nach der Geburt wusste erst mal niemand, was mit dem Jungen los war. Jede Menge Untersuchungen musste Jim über sich ergehen lassen, bis die Diagnose feststand: Muskelschwäche.

Eine Erbkrankheit, wie sich herausstellte. Und eine schockierende Gewissheit – wie soll die kleine Familie aus einem Dorf bei Trier an der Mosel die Herausforderungen des Alltags bewältigen?

Christian Kasel packt an, wo er kann. Als Energietechniker arbeitet er im Schichtdienst. Er verbringt so viel Zeit wie möglich mit Frau und Sohn. Doch die Familie hat professionelle Unterstützung nötig – allein damit die Eltern mal durchschlafen können.

Jim muss beatmet werden. Er bekommt Sekret aus der Lunge abgesaugt, nachts braucht er Hilfe, um sich im Bett umzudrehen. Inzwischen ist Jim drei Jahre alt und sitzt in einem Therapiestuhl. Er ist gern draußen und macht seinem Vater auch mal das Handy streitig.

Auch Pflegedienste kommen an ihre Grenzen

So wie die Kasels pflegen in Deutschland laut dem Statistischen Bundesamt eine Million Familien zu Hause ein chronisch krankes oder behindertes Kind – ein Fulltime-Job für die Eltern. Hinzu kommt ein Beruf, den viele zusätzlich ausüben und vielleicht noch die Erziehung von Geschwisterkindern. Aber auch Pflegedienste kommen bei der Versorgung aus Mangel an Fachkräften an ihre Grenzen.

Bei den Kasels helfen jetzt stundenweise geschulte Kinderkrankenschwestern aus, nachdem ein Pflegedienst die Familie kurzfristig im Stich gelassen hat. Sie kommen vom vielfach ausgezeichneten Familiennetzwerk Nestwärme. Der Verein unterstützt seit 20 Jahren zunächst in Rheinland-Pfalz, dann auch bundesweit Familien mit behinderten oder chronisch kranken Kindern.

Dessen Gründerinnen, Elisabeth Schuh und Petra Moske, kennen die Probleme und Schwierigkeiten, die eine Betreuung pflegebedürftiger Kinder mit sich bringt. Sie sind alarmiert: Denn die Zahl der Babys, die als „Frühchen“ oder trotz neurologischer Erkrankungen, mehrfacher Behinderungen, Stoffwechselstörungen und Lähmungen am Leben bleiben, steigt dank des medizintechnischen Fortschritts. Gleichzeitig sinke die Zahl spezialisierter Pflegekräfte.

Kindernetzwerk hilft bei der Betreuung und Behandlung

Wenn ein behindertes oder chronisch krankes Kind auf die Welt kommt, kann schon die Wahl der spezialisierten Geburtsklinik eine Rolle spielen. Wenn das gesundheitliche Problem aber während der Schwangerschaft nicht auffällt oder als Folge eines Sauerstoffmangels während der Geburt entsteht, „steht die Familie ratlos da, sobald das Kind nach Hause kommt“, sagt Annette Mund.

Mund ist Vorsitzende des Kindernetzwerks, dem Dachverband der Selbsthilfe von Familien mit Kindern und jungen Erwachsenen mit chronischen Erkrankungen und Behinderungen in Deutschland. Wie das Projekt Nestwärme hilft auch Munds Netzwerk, wo es kann.

Es vermittelt Eltern Experten in ihrer Umgebung – Ärzte, die sich darum kümmern, dass die Erkrankung wie im Fall von Jim Kasel richtig diagnostiziert wird. „Wir haben einen eigenen Beirat von Kinderärzten und können Adressen für Therapien vermitteln“, erklärt Mund.

Darüber hinaus gibt es einen Online-Ratgeber für die sozialrechtliche Unterstützung, für finanzielle Hilfen sowie Beratung und Kontakt zu anderen Eltern, mit denen man sich über mögliche Wege bei der Behandlung austauschen kann.

Bundesweit rund 500 unabhängige Angebote für Menschen mit Behinderungen

Hilfe zur Teilhabe – das ist auch das Stichwort für eine andere wichtige Institution: die Ergänzende unabhängige Teilhabeberatung, kurz EUTB. Bundesweit gibt es rund 500 unabhängige Angebote für Menschen mit Behinderungen, bei der Fachstelle Teilhabeberatung in Berlin laufen die Fäden zusammen.

Das Angebot soll niedrigschwellig sein und unabhängig von Leistungsträgern und - Erbringern erfolgen. Das Besondere: Die Beratung soll möglichst von Betroffenen für Betroffene stattfinden.

Das richtige Hilfsangebot zu finden, ist für Eltern pflegebedürftiger Kinder nicht leicht: Die Zahl der Anlaufstellen ist groß, die Angebote unterscheiden sich je nach Region und die Eltern stehen in einer schwierigen Situation vor Fragen, mit denen sie sich bislang nie auseinandersetzen mussten.

Netzwerk von 1800 ehrenamtlichen Unterstützern aufgebaut

Umso wichtiger sind individuelle Lösungen. Die will Annette Mund vom Kindernetzwerk künftig anbieten. Sie plant das Modellprojekt „Familiengesundheitspartner“. Dabei soll eine Art Lotse prüfen, welche Bedürfnisse Vater, Mutter und die Kinder haben. Das ist auch das Anliegen der Nestwärme-Gründerinnen Elisabeth Schuh und Petra Moske.

Sie haben mit dem Programm „ZeitSchenken“ ein bundesweites Netz aus 1800 ehrenamtlichen Unterstützern aufgezogen, das Eltern berät oder ihnen bei Aufgaben des Alltags unter die Arme greift, etwa bei der Steuererklärung oder der Organisation von Nachhilfestunden für Geschwisterkinder.

Der Verein bietet in Trier außerdem einen ambulanten Kinderkrankenpflegedienst ebenso wie eine inklusive Krippe, in der unter Dreijährige, die zum Beispiel Diabetes haben oder auf Blutwäsche angewiesen sind, zusammen mit ihren gesunden Geschwistern betreut werden.

Krankenschwestern bringen Eltern die medizinische Versorgung bei

Im gleichen Haus ist seit drei Jahren die sogenannte ambulante Brückenpflege als öffentlich gefördertes Modellprojekt untergebracht. Dort werden Familien auf das neue Leben mit einem pflegebedürftigen Kind vorbereitet – etwa auf die medizinischen Herausforderungen.

So bringen Krankenschwestern Müttern und Vätern bei, wie sie zum Beispiel mit einem Beatmungsgerät umgehen. „Das kann ein halbes Jahr dauern“, sagt Pflegedienstleiterin Sonja Groeger. Das Projekt ist ein bundesweites Angebot – direkt bei Nestwärme angegliedert oder bei Partnern vor Ort.

Groeger ist seit 16 Jahren in der Verantwortung. Und sie muss miterleben, dass sich immer weniger junge Menschen für ihren Beruf begeistern lassen – das Image der Pflege braucht dringend Politur. „Und es wird wichtiger, gemeinsam mit den Eltern flexible Lösungen zu finden“, meint die Pflege-Expertin.

Keine leichte Aufgabe, weil Krankenkassen oft aufwendige Anträge für Leistungen einfordern, was einem schnellen, unbürokratischen Einsatz fürs kranke Kind häufig entgegensteht. Als weiteren Ansatz hat Nestwärme ein neues Vorhaben im Visier: Die vielfältigen Angebote des Netzwerks sollen in einer inklusiven Umgebung gebündelt werden, wo nicht nur Familien mit kranken Kindern, sondern auch junge Erwachsene in betreuten Wohngemeinschaften leben.

In dem Modellprojekt soll es nicht nur Beratung und Freizeitmöglichkeiten für die ganze Familie geben, man will auch neue Therapieformen testen – zum Beispiel unterstützt durch Tiere.

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