Erfurt. Vor 30 Jahren erschien erstmals die „Thüringer Allgemeine“. Als erste ostdeutsche Zeitung brach sie mit dem Meinungsmonopol der SED.

Am frühen Nachmittag des 13. Januar 1990 betraten vier Männer das Vordach über dem Eingang zum Zeitungshochhauses am Juri-Gagarin-Ring in Erfurt. Seit dem Bezug des Gebäudes Ende der 60er-Jahre prangten hier die Leuchtbuchstaben der SED-Zeitung „Das Volk“. Das Parteiblatt und damit auch das Meinungsmonopol der Staatspartei waren nun seit diesem Samstag Geschichte. Die Herren auf dem Dach waren jetzt Redakteure der „Thüringer Allgemeine“. Als erste unabhängige Tageszeitung der Noch-DDR war sie kurz zuvor von Mitarbeitern aus Redaktion, Verlag und Druckerei in einer hochemotionalen Urabstimmung aus der Taufe gehoben worden. Kollegen hatten auf die Schnelle den Namen der neuen „Unabhängigen“ auf ein weißes Transparent gemalt, dass die Dachkletterer nun weithin sichtbar über dem alten Schriftzug befestigten. Der Schweizer Journalist Roy Spring, der als Redaktionsgast „nur“ die Wendezeit in der DDR beobachten wollte und so zufällig zum Zeugen der teils dramatischen Abnabelung von der journalistischen Vergangenheit wurde, kommentierte den Vorgang danach mit den Worten: „Ein kleiner Schritt für einen Journalisten, aber ein großer für den Journalismus.“

Empfohlener externer Inhalt
An dieser Stelle befindet sich ein externer Inhalt von X, der von unserer Redaktion empfohlen wird. Er ergänzt den Artikel und kann mit einem Klick angezeigt und wieder ausgeblendet werden.
Externer Inhalt
Ich bin damit einverstanden, dass mir dieser externe Inhalt angezeigt wird. Es können dabei personenbezogene Daten an den Anbieter des Inhalts und Drittdienste übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung

Dieser Schritt hatte zu diesem Zeitpunkt schon einen längeren und bewegten Vorlauf. Seit dem Herbst 1989 skandierten die Erfurter Donnerstagsdemonstranten regelmäßig vor dem Haus „Wir sind das Volk“ und „Schreibt die Wahrheit“. Einerseits war die Erfurter Zeitung die erste im Osten, die ein Interview mit einem Vertreter des zunächst verbotenen Neuen Forums veröffentlichte. Nach dem Mauerfall erschien Das Volk mit dem Programm von ARD und ZDF. Das Fernsehen des Westens in einer Ostzeitung war zu DDR-Zeiten quasi undenkbar. Seit Längerem sannen besorgte Redakteure im kleinen Kreis über eine Zukunft der Berichterstattung ohne Bevormundung und Zensur nach.

Treuhand und Regierenden auf die Finger geschaut

Andererseits war der Kampf um mehr journalistische Freiheiten von wochenlangen heftigen Auseinandersetzungen sowie harschen Drohungen durch den Herausgeber, die SED bzw. PDS begleitet. Der Staatspartei gehörten in der DDR 16 der größten Zeitungsverlage sowie 26 Druckereien. Die Redaktionen hingen nicht nur ideologisch und finanziell am Tropf der Partei. Diese teilte auch Gehälter und Druckpapier zu. Unverhohlen wurde mit dem Entzug der Kontingente gedroht.

Ein ehemaliger Redakteur erinnert sich auf Twitter:

Empfohlener externer Inhalt
An dieser Stelle befindet sich ein externer Inhalt von X, der von unserer Redaktion empfohlen wird. Er ergänzt den Artikel und kann mit einem Klick angezeigt und wieder ausgeblendet werden.
Externer Inhalt
Ich bin damit einverstanden, dass mir dieser externe Inhalt angezeigt wird. Es können dabei personenbezogene Daten an den Anbieter des Inhalts und Drittdienste übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung

So wurde in Abwesenheit der Chefredaktion wiederholt der Untertitel „Organ der Bezirksleitung der SED“ geändert oder weggelassen - um tags drauf auf offiziellen Geheiß doch wieder an seinen Platz zurückzukehren. Erst als Anfang Januar alle Ressortleiter ihre Ämter niederlegten und sich die Drucker weigerten, das alte Impressum zu drucken, war der Weg frei zur Unabhängigkeit. Geführt wurde die TA von einem siebenköpfigen Redaktionsrat. Mit der Umbenennung wollte man, wie es hieß, den „Geruch des Herings“ loswerden und ganz bewusst an eine Art der Berichterstattung anknüpfen, wie sie namhafte „Allgemeine Zeitungen“ repräsentierten. Erster und langjähriger Chefredakteur wurde Sergej Lochthofen.

Lug und Trug in der DDR aufgedeckt

Es sei so gewesen, als habe man einen Grauschleier weggerissen, erinnerte sich eine Redakteurin später. Die „Thüringer Allgemeine“ deckte Lug und Trug im SED-Staat DDR auf, schrieb über wirtschaftliche und soziale Entwicklungen wie Fehlentwicklungen im Einigungsprozess und begleitete die Sorgen ihrer Leser. Die Redakteure thematisierte früh die Rückkehr der Länder, enthüllen die seit Jahrzehnten tabuisierte Geschichte der sowjetischen Nachkriegslager mit Tausenden Toten und trafen Menschen, die beim Bau der innerdeutschen Grenze aus ihrer Heimat zwangsausgesiedelt wurden. Immer wieder macht die Zeitung mit spektakulären Aktionen für Demokratie und Offenheit von sich reden. Sie schaute den Regierenden ebenso auf die Finger wie der Treuhand. Als die Greußener Salami vom Markt verschwinden soll, mobilisiert sie tagelang die Öffentlichkeit gegen das Vorhaben - die Traditionsmarke gibt es noch heute. Die Redaktion kämpft gegen zügellose Überwachung im öffentlichen Raum, die in Weimar auch ganz konkret die Pressefreiheit bedrohte und machte ganzseitig gegen rechts mobil („Pfeift die Nazis aus der Stadt“, „Bunte Vielfalt stoppt braune Einfalt“). 2012 arbeiten die Redakteure erstmals in Deutschland in wochenlangen Recherchen und Expertenrunden die Geschichte der Treuhand auf und werteten dafür Tausende gesperrte Akten aus.

Empfohlener externer Inhalt
An dieser Stelle befindet sich ein externer Inhalt von X, der von unserer Redaktion empfohlen wird. Er ergänzt den Artikel und kann mit einem Klick angezeigt und wieder ausgeblendet werden.
Externer Inhalt
Ich bin damit einverstanden, dass mir dieser externe Inhalt angezeigt wird. Es können dabei personenbezogene Daten an den Anbieter des Inhalts und Drittdienste übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung

30 Jahre nach dem Gang in die Unabhängigkeit bleiben die Herausforderungen groß. Veränderte Lesegewohnheiten auch infolge der Digitalisierung sowie hohe Herstellungskosten zwingen Verlag und Redaktion zu kreativen Neuerungen. Wahrhaftigkeit, Gründlichkeit, Objektivität und Rechtsstaatlichkeit der Berichterstattung bleiben davon unberührt. Genau so hatte es sich die erste „Unabhängige“ 1990 auf die Fahne geschrieben.

Bilder aus 30 Jahren TA-Redaktion und Druckzentrum

Am Standort Bindersleben entstand Europas zur damaligen Zeit modernstes Druckzentrum.
Am Standort Bindersleben entstand Europas zur damaligen Zeit modernstes Druckzentrum.
Jede Nacht rattern im Druckzentrum Erfurt-Bindersleben seitdem die Rotationsmaschinen.
Jede Nacht rattern im Druckzentrum Erfurt-Bindersleben seitdem die Rotationsmaschinen.
Auch der MDR drehte immer wieder in den Räumen der TA. Hier ist MDR-Redakteur Sascha Mönch im Gespräch mit Sebastian Helbing.
Auch der MDR drehte immer wieder in den Räumen der TA. Hier ist MDR-Redakteur Sascha Mönch im Gespräch mit Sebastian Helbing. © TA | Sascha Fromm
Für den TA-Krimi
Für den TA-Krimi "Wilhelm ermittelt" suchte die Zeitung bei einem Casting im Terminal des Erfurter Flughafens Darsteller. © Sascha Fromm | Sascha Fromm
Weit über 200.000 Tageszeitungen verlassen täglich in den frühen Morgenstunden...
Weit über 200.000 Tageszeitungen verlassen täglich in den frühen Morgenstunden...
Gemeinsam mit der IHK Erfurt vergab die TA 2016 den Wirtschaftspreis
Gemeinsam mit der IHK Erfurt vergab die TA 2016 den Wirtschaftspreis "Unternehmen mit Verantwortung". © Sascha Fromm | Sascha Fromm
Immer wieder werden die Redaktionsräume auch für Leser geöffnet - so wie hier bei der
Immer wieder werden die Redaktionsräume auch für Leser geöffnet - so wie hier bei der "Langen Nacht der Wissenschaften". © TA | Sascha Fromm
Vor 30 Jahren, am 16. Januar 1990, erschien die erste Ausgabe der Thüringer Allgemeine. Vier Jahre später weihte Helmut Kohl das neue Druckzentrum ein.
Vor 30 Jahren, am 16. Januar 1990, erschien die erste Ausgabe der Thüringer Allgemeine. Vier Jahre später weihte Helmut Kohl das neue Druckzentrum ein.
Hier werden die Zeitungen für den Versand vorbereitet.
Hier werden die Zeitungen für den Versand vorbereitet. © Sascha Fromm | Sascha Fromm
Die aus der SED-Bezirkszeitung
Die aus der SED-Bezirkszeitung "Das Volk" hervorgegangene Thüringer Allgemeine war die erste unabhängige Tageszeitung Ostdeutschlands.
Die Mediengruppe Thüringen, zu der auch die TA gehört, veranstaltet auch die Messe
Die Mediengruppe Thüringen, zu der auch die TA gehört, veranstaltet auch die Messe "Besser leben", hier mit Stargast Harald Glööckler.
In einem modernen Newsroom entstehen neben der täglichen Ausgabe das Internetangebot, werden die Social-Media-Kanäle von Facebook über Twitter bis hin zu Instagram betreut und Podcasts erstellt.
In einem modernen Newsroom entstehen neben der täglichen Ausgabe das Internetangebot, werden die Social-Media-Kanäle von Facebook über Twitter bis hin zu Instagram betreut und Podcasts erstellt.
Beim Leserkonzert im Erfurter Kaisersaal spielte 2019 die Thüringen-Philharmonie Gotha-Eisenach.
Beim Leserkonzert im Erfurter Kaisersaal spielte 2019 die Thüringen-Philharmonie Gotha-Eisenach. © Sascha Fromm | Sascha Fromm
In der Reihe
In der Reihe "Domplatz 1" konnten Leser sich als Interviewer betätigen, hier 2016 mit City-Sänger Toni Krahl. © TA | Alexander Volkmann
Das Interesse an der Erstellung der Tageszeitung und der Onlineangebote ist bei Jung und Alt groß.
Das Interesse an der Erstellung der Tageszeitung und der Onlineangebote ist bei Jung und Alt groß. © TA | Sascha Fromm
Hier gibt die Redaktion einen Einblick in ihre Arbeitsweise, diskutiert mit Lesern und nimmt Kritik auf.
Hier gibt die Redaktion einen Einblick in ihre Arbeitsweise, diskutiert mit Lesern und nimmt Kritik auf.
Die Zeitungslektüre gehört für viele Thüringer zu einem gelungenen Tag.
Die Zeitungslektüre gehört für viele Thüringer zu einem gelungenen Tag.
Hoher Besuch: Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier war 2017 zu Gast im Druckzentrum in Erfurt Bindersleben.
Hoher Besuch: Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier war 2017 zu Gast im Druckzentrum in Erfurt Bindersleben. © TA | Sascha Fromm
...die riesige Halle und werden von hunderten Zustellern in ganz Thüringen verteilt.
...die riesige Halle und werden von hunderten Zustellern in ganz Thüringen verteilt.
In Kooperation mit Salve TV produziert die TA seit mehreren Jahren regelmäßige Sendungen zu den Themen Politik, Kultur und Sport.
In Kooperation mit Salve TV produziert die TA seit mehreren Jahren regelmäßige Sendungen zu den Themen Politik, Kultur und Sport. © Sascha Fromm | Sascha Fromm
Doch die Thüringer Allgemeine ist heute viel mehr als eine Zeitung.
Doch die Thüringer Allgemeine ist heute viel mehr als eine Zeitung.
1/21

Das könnte Sie auch interessieren: