Frank Quilitzsch über eine familiäre Dating-Show

Wer glaubt, der „Bachelor“ sei eine Erfindung des Privatfernsehens, irrt gewaltig. Es hat ihn bereits vor siebzig Jahren in meiner Familie gegeben. Die Dating-Show fand sonntags in der Leipziger Menckestraße statt, wo Oma Lucie mit ihren fünf Kindern wohnte und einen Mann suchte. Ihr Angetrauter, mein Großvater, war mit 51 Jahren gestorben.

Oma Lucie besaß keinen akademischen Abschluss, hatte aber, was mehr zählte, im Krieg ihre Kinder aus dem von einer Fliegerbombe getroffenen Haus gerettet. Sie war eine tapfere, zupackende, fröhliche Frau und wollte ihre Lebenslust wieder mit jemandem teilen. Als Mitropa-Kellnerin lernte sie täglich einsame Männer kennen. Doch welcher passte zu ihr? Um es herauszufinden, lud sie die Kandidaten nacheinander nach Hause ein, wo ihre Kinder mitentscheiden durften.

Oma Lucie verteilte keine Rosen, sie bekam ganze Sträuße geschenkt. Der Ablauf war stets derselbe: Der Eingeladene saß eingeschüchtert an der Kaffeetafel und himmelte meine Großmutter an. Die Bachelorette, so will ich sie mal nennen, ließ sich nichts anmerken. Sobald der Kandidat gegangen war, fragte sie in die Runde: Und? Ganz gleich, wen die Kinder favorisierten, sie schüttelte den Kopf. Bis eines Tages ein schmächtiger Mann mit watschelndem Gang, traurigem Blick und Schnauzbärtchen am Tisch Platz nahm. Er sah aus wie Charlie Chaplin und war kinderlieb. Ohne das Jury-Urteil abzuwarten, rief meine Oma: Den liebe, den nehme ich! Wenige Tage später zog Opa Charlie bei ihr ein.

Wer‘s nicht glaubt, frage meine Tante in Bad Klosterlausnitz.

Frank Quilitzsch: Alter, du wirst abgehängt. Die besten Kolumnen, Klartext-Verlag, Essen, 176 S., 16,95 Euro