Martin Debes über Macht und Merkel.

Was wäre geschehen, wenn Annegret Kramp-Karrenbauer an jenem trüben Wintertag nicht nach Thüringen gefahren wäre? Wäre sie dann heute noch Parteivorsitzende, Kanzlerkandidatin gar? Wäre dann die Geschichte der CDU anders verlaufen?

Wäre, wäre, Völkerrechtslehre.

Aus der besserwissenden Rückschau ist es jedenfalls definitiv nicht als gute Idee zu bewerten, dass sich Kramp-Karrenbauer am 6. Februar 2020 in Berlin ins Auto setzte, um in Erfurt sofortige Neuwahlen durchzusetzen. Sie lief frontal in der CDU-Landtagsfraktion auf. Die Demütigung war tief und öffentlich. Vier Tage später kündigte sie ihren Rücktritt an.

Nun unterscheidet die historische Forschung gemeinhin zwischen Anlass und Ursache. So unbestreitbar der Wahleklat um Thomas Kemmerich nebst Folgen der Anlass für den Rückzug Kramp-Karrenbauers war, so wenig war er die Ursache ihres Scheiterns.

Die Gründe sind bei Kramp-Karrenbauer selbst, aber vor allem in den Umständen zu suchen. Nie zuvor waren Regierungs- und Parteivorsitz in der CDU getrennt. Und nie zuvor hatte eine amtierende Kanzlerin – oder ein Kanzler – angekündigt, nicht zur Wiederwahl anzutreten. Dies machte die Lage für Kramp-Karrenbauer volatil – zumal angesichts der Konkurrenz von Friedrich Merz, Jens Spahn, Armin Laschet oder Markus Söder.

Die Einzige, die der Vorsitzenden am Ende wirklich helfen konnte, war Angela Merkel. Doch die Kanzlerin verfolgt in ihrer Personalführung einen eher politdarwinistischen Ansatz: Sie bietet, bestenfalls, die Startbasis für eine Karriere. Schaffen müssen es die Leute selbst. Ein „survival of the smartest“ sozusagen.

So jedenfalls beschreibt es der Journalist Robin Alexander in seinem neuen Buch. Nachdem er in „Die Getriebenen“ die sogenannte Flüchtlingskrise als Ergebnis einer kollektiven Überforderung der deutschen Politik darstellte, schilderte er in „Machtverfall“ eine Pandemiekanzlerin, die sich im föderalen Gefüge zerreibt und zunehmend im Kleinklein der Corona-Regeln verliert.

Alexander zeigt, wie es zum Hin und Her bei der Maskenpflicht und dem Fehlmanagement beim Impfankauf kam. Gleichzeitig entkräftet der Vize-Chefredakteur der „Welt“ dumpfe Versagensrhetorik und Diktaturgerede, sondern analysiert mit großer Präzision, wie eine neue und komplexe Situation die meisten Beteiligten neuerlich an ihre Grenzen führte.

Parallel dazu erzählt Alexander den Kampf um Merkels Nachfolge fast schon lustvoll als bundesrepublikanisches „Game of Thrones“, das zum Höhepunkt der Pandemie im Zweikampf von Laschet und Söder sein vorläufiges, schmutziges Finale findet. Thüringen ist in dieser politischen Reality-Serie eine wichtige, frühe Episode. Sie demonstriert den Autoritätsverlust Kramp-Karrenbauers und ihre Entfremdung von der Kanzlerin und dient als Ausgangspunkt des dramatischen Endspiels um die Kanzlerkandidatur.

Nun sind manche Details der Erfurter Ereignisse nicht gänzlich stimmig berichtet; zudem wirkt die Sicht auf die hiesigen Dinge hauptsächlich von Alexanders Berliner Quellen geprägt. Dennoch illustriert er eindrücklich die stupende Hilflosigkeit in der CDU-Zentrale, in der man bis heute kaum eine Ahnung davon hat, wie die ländliche Partei im Osten tickt.

Nebenher zeigt Alexander das instrumentelle Verhältnis Merkels zur Union. Um ihre Macht – und ihr Vermächtnis – zu retten, fordert sie aus dem Ausland die Rückabwicklung einer Wahl in einem deutschen Parlament. Beschlüsse und Personal verkommen zur Opfergabe gegenüber der Sozialdemokratie. Ihr offenkundiges Motto: erst die Regierung, dann die Kanzlerin, dann die Partei.

Das Buch endet mit Laschets Nominierung zum Kanzlerkandidaten. In der Fortsetzung, die das Leben gerade schreibt, könnte Thüringen wieder eine prekäre Rolle einnehmen. Falls die vertraglich garantierte Neuwahl des Landtags an den fehlenden Stimmen der CDU scheiterte, wäre dies auch eine Niederlage des aktuellen Bundesvorsitzenden. Dann schlösse sich ein Kreis zu seiner Vorgängerin und dem 6. Februar 2020.

Robin Alexander: Machtverfall. Merkels Ende und das Drama der deutschen Politik. Siedler Verlag, 22 Euro