Martin Debes über Auflösungserscheinungen.

Drei Männer und eine Frau wollen verhindern, dass bis zu 1,7 Millionen Menschen den Thüringer Landtag am 26. September neu wählen. Wenn die vier CDU-Abgeordneten im Juli nicht für die Auflösung des Parlaments stimmen, fehlt ihrer Fraktion und der rot-rot-grünen Minderheitskoalition eine Stimme zur nötigen Zweidrittelmehrheit. Möglich, dass es unter diesen Voraussetzungen gar nicht zum Votum kommt.

Die Argumentation der vier klingt partiell schlüssig. Die Neuwahl könnte, so besagen es jedenfalls die Umfragen, wenig an der aktuellen Situation ändern, in der AfD und Linke gemeinsam die Mehrheit der Abgeordneten stellen. Das heißt, ohne eine Beteiligung einer der beiden Parteien könnte wieder keine Mehrheitsregierung geformt werden.

In der Folge drohte die Wiederholung des Nervenkriegs von vor eineinhalb Jahren. Nach langem Taktieren aller Parteien käme es zur verspäteten Bildung einer wie auch immer gearteten Minderheitsregierung. Da diesmal kein vom Parlament verabschiedeter Haushaltsplan existiert, würden darunter auch Verwaltung und Investitionen leiden.

Am Ende verlören fast alle Beteiligten, vor allen anderen aber die CDU. Sie dürfte nochmals Mandate einbüßen und müsste vielleicht am Ende wieder eine Linke-geführte Minderheitsregierung unter Bodo Ramelow stützen. Die Alternative – also die Kooperation mit einer vom Verfassungsschutz beobachteten AfD – ist bekanntlich keine.

Dies demütigende Szenario ist natürlich nicht unausweichlich, aber es ist eben auch nicht unwahrscheinlich. Dass die vier Abgeordneten auch aus anderen Motiven heraus handeln dürften, aus Kränkung, Rache, Trotz oder schnödem Mandatserhalt, ist dabei egal. Auch für sich genommen wirkt ihre Argumentationskette in Teilen plausibel.

Kein Wunder, dass einige CDU-Fraktionskollegen und selbst manche Abgeordnete von Linke, SPD und Grünen die Perspektive insgeheim teilen. Sie wollen ja auch nicht ihren Sitz verlieren, weil ihr Wahlkreis an andere geht oder weil sie zu weit hinten auf der Liste landen. Auch etliche Kabinettsmitglieder und Staatssekretäre fänden es durchaus okay, wenn sie bis zum Ende der regulären Wahlperiode im Herbst 2024 ihren gut dotierten Job behielten. Sie sagen es halt bloß nicht laut.

Doch es gibt zwei entscheidende, prinzipielle Gründe gegen diese Logik. Der erste Grund: Dieser Landtag hatte sich am 5. Februar 2020 bei der Wahl von Thomas Kemmerich zum Ministerpräsidenten kollektiv von der AfD manipulieren lassen. Nach diesem historischen Eklat legten sich vier Fraktionen, die 63 von 90 Abgeordneten stellen, vertraglich darauf fest, dem Volk die Gelegenheit zu geben, das Parlament per Wahl neu zu legitimieren. Als der Neuwahltermin wegen der Pandemie verschoben werden musste, wurde der Vertrag Anfang dieses Jahres nochmals bekräftigt.

Dieses Versprechen wollen die vier nun brechen, was zusätzlich Vertrauen in die politische Klasse kostete. Viele Menschen nähmen an, dass es den Abgeordneten und Regierenden nur um Posten und Einfluss ginge. Das gälte übrigens vor allem für die vertragsbrüchige CDU, deren Ruf nochmals litte.

Der zweite Grund: Eine Fortsetzung des Status quo würde Thüringen definitiv schaden. Die frustrierende Agonie, die über der zerstrittenen Minderheitsregierung und der CDU liegt, dauerte dann bis 2024 an. Schon jetzt wird das Land wegen der ungeklärten, ja volatilen Situation sichtbar schlecht geführt und verwaltet.

Nur ein neuer Landtag bietet allen Parteien die Chance, sich neu zu sortieren: mit verbindlichen Absprachen, frischen Ideen und teils gewechseltem, entscheidungswilligem Personal. Dieser Neuanfang ist nach den Verwerfungen der Pandemie umso wichtiger.

Und falls es nach der Wahl nicht zu praktikablen Mehrheiten reicht? Dann wüssten wenigstens alle, woran sie sind – und dass sie fünf gemeinsame Jahre für Thüringen zu gestalten haben. Irgendwie.

Und was ist mit der Gefahr, dass sich der 5. Februar 2020 wiederholt? Sie ist eher gering. Der Tag markiert eine historische Zäsur, er hat die politische Wirklichkeit verändert – genauso wie er den 7. Thüringer Landtag kontaminierte.

Deshalb ist die Neuwahl nötig.