Martin Debes über das sogenannte Öffnen.

Am Wochenende war ich im Landeshauptstädtchen unterwegs, in der Sonne war es sogar warm, in diesem Mai, dem leider niemand gesagt hat, dass er nicht April heißt. Überall saßen, liefen und standen Menschen herum, sie aßen Gegrilltes, leckten Eis oder nippten, wie es schick geworden ist, an einem bayerischen Hellen.

Die sogenannte Außengastronomie hatte angeblich geschlossen, aber wofür gibt es Bänke, Mauern, Wiesen, Flussufer oder Steine, auf denen sich sitzen lässt. Von wegen to go. Masken hatten nur wenige Nichtgäste auf, warum auch, die Studien der Aerosolforscher sind eindeutig. Dafür hielten aber, wie die Vernunft besagt, die meisten Menschen und Familien die nötige Mindestdistanz zueinander.

Gestern war ich im Supermarkt, Großeinkauf, vor dem Gemüseregal wurde es voll, am Käsestand auch. Alle hatten Masken auf, und die meisten bemühten sich, so gut es ging, um Abstand. Doch welcher Kunde geimpft, getestet oder genesen war: keine Ahnung.

Nun also sollen – falls, bitte jetzt mitzählen, die Anzahl der positiven Corona-Tests pro 100.000 Einwohner binnen einer Woche für fünf Werktage in einer Region unter 100 bleibt – die Tische und Stühle rausgestellt werden, damit die Menschen nach Terminvergabe ihr Eis, ihre Bratwurst oder ihr Helles dortselbst konsumieren können. Auch die Geschäfte, die nicht Supermarkt oder Bäcker, Apotheke oder Drogerie, Buchladen oder Blumengeschäft, Fahrradbetrieb oder ein Schuhladen (nur für Kinderschuhe, versteht sich!) sind, dürfen dann für Getestete, Geimpfte und Genesene komplett aufmachen. Die sogenannte Bundesnotbremse gilt dann nicht mehr, so besagt es Paragraf 28b des Infektionsschutzgesetzes.

Nun ist es schon mal fraglich, ob zu einem Zeitpunkt, in dem ein Drittel der Menschen eine Corona-Erstimpfung erhalten hat, die Inzidenz noch der alleinige Indikator sein kann. Diese Zweifel wurden nicht etwa auf einer unangemeldeten Protestdemonstration geäußert, sondern in einer Protokollnotiz von der hiesigen Landesregierung, bevor dieselbe Landesregierung die Notbremse nolens volens im Bundesrat passieren ließ.

Okay, ja, Regeln sind nie wirklich passgenau, schon gar nicht in einer Situation, die sich ständig ändert. Aber sie sollten schon einer gewissen Binnenlogik folgen.

Denn es ergibt wenig Sinn, von Leuten, die etwas auf einer Parkbank verzehren, eine Terminvereinbarung zu verlangen, wenn sie sich dazu an einen Cafétisch setzen wollen. Und es ergibt ebenso wenig Sinn, von Menschen, die sich eben noch ungetestet im Supermarkt drängelten, in einer Boutique einen Test oder den Impfnachweis zu verlangen, den sowieso niemand kontrollieren kann.

So steht es aber in der „Thüringer Verordnung zu Regelung infektionsschutzrechtlicher Maßnahmen und schrittweisen Eindämmung der Ausbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2“. (Sie schreibt jedoch nicht vor, dass auch beim Caféterrassenbesuch ein negativer Test vorzuweisen ist, wie ich in der gestrigen Ausgabe in einem Kommentar schrieb. Ich bitte, diesen Fehler zu entschuldigen.)

Das Argument, dass in Lebensmittelgeschäften oder Drogerien der Grundbedarf gedeckt werde und in Elektronikmärkten eher nicht, leuchtete während des harten Lockdowns angesichts dramatisch steigender Infektionszahlen und am Limit kämpfender Krankenhäuser ein. Aber wenn der Einzelhandel aufgemacht wird und im engen, gedrängten Supermarkt keine Testpflicht besteht, im deutlich luftigeren Baumarkt aber schon: Wer soll dieses Zweiklassen-Shopping noch verstehen?

Für die meisten Händler ist es sowieso keine Lösung. Umfragen besagen, dass sich ihr Umsatz, wenn Tests verlangt werden, eklatant unter dem Vor-Pandemie-Niveau bewegt. Da können sie auch gleich ihren Laden zulassen.

Dies ist kein Aufruf zu Fahrlässigkeit. Was passiert, wenn diese Pandemie außer Kontrolle gerät, lässt sich in Indien besichtigen. Deshalb verstehen die meisten Menschen sehr gut, dass es noch zu früh dafür ist, im Restaurant zu feiern oder sich im Theater vom Sitznachbarn anhusten zu lassen.

Nein, es geht vielmehr darum, dass Regeln verständlich, angemessen und logisch sein sollten. Sonst drohen sie irgendwann zum Selbstzweck zu verkommen.