Martin Debes über Denkmalstürze.

Es war vor langer Zeit oder neulich, je nachdem, da besuchte ich eine Polytechnische Oberschule, die nach Wilhelm Pieck benannt war. Es war der erste und gleichzeitig letzte Präsident jenes Staates, dessen Nennung nur selten ohne das Adjektiv „ehemalig“ auskommt, so, als reiche es nicht, dass er nicht mehr existiert. Es redet ja auch niemand vom ehemaligen Heiligen Römischen Reich deutscher Nation, dabei ist es ja, nun ja, deutlich ehemaliger als die kleine und kurzlebige DDR.

Aber ich schweife ab. Also, die POS Wilhelm Pieck war ein Neubau, weshalb sich 1945 niemand die Mühe hatte machen müssen, den Schriftzug „Hindenburg-Lyzeum“ oder „Kaiser-Wilhelm-Gymnasium“ zu entfernen. Schließlich stiften Namen, Bezeichnungen, Symbole nicht nur Identität oder dienen der kollektiven Selbstvergewisserung und Erinnerung. Sie repräsentieren oft genug die jeweiligen Machtverhältnisse, politisch, kulturell, religiös. Auch ein Denkmal ist zumeist nicht nur ein Denkmal, sondern ein in Stein gehauener Herrschaftsanspruch.

Im Osten Deutschlands wechselten sich binnen 72 Jahren Kaiserreich, Weimarer Republik, Naziregime, DDR und Bundesrepublik derart rasch ab, dass man mit dem Umbenennen und Denkmalstürzen kaum hinterher kam. Zu meiner Schulzeit hieß der Platz, den man einst zu Ehren des Sozialistenverfolgungskanzlers Bismarck benannt hatte, nach dem Kommunisten Karl Marx. Aus der Moltke-Straße war eine Thälmann-Straße geworden und aus der Hitler-Straße, das war nun wirklich sehr vernünftig, eine Straße des Friedens.

Bloß die Erweiterte Oberschule durfte so heißen, wie sie einst schon als Gymnasium hieß, nämlich nach dem ewigen Goethe. Als ich dort mein Abitur absolvierte und parallel dazu die DDR verschwand, musste so das wiederauferstandene Gymnasium nicht seinen Namen wechseln. Nur für Pieck und Marx wurde es schwierig, genauso wie für Thälmann, Liebknecht und Luxemburg.

Am Ende, es gab ja nun Pluralismus, durfte hier und dort noch ein bisschen sozialistisches Heldentum überdauern. Ansonsten versuchte es die Stadt sicherheitshalber mit systemneutralen Ortsbezeichnungen: Aus dem „Leninring“ wurde „Am Stollen“.

Blöd anstellen konnte man sich trotzdem noch. 1992 beschloss die Schulkonferenz der Nelson-Mandela-Schule, sich doch lieber nach dem blütenweißen und deutschen Wissenschaftler Heinrich Hertz zu nennen. Später, der schwarze Friedensnobelpreisträger war gerade verstorben, erachtete der Stadtrat diese Entscheidung zwar „rückblickend als zu kurzsichtig“. Die Wiedergutmachung bestand aber dann bloß darin, eine kleine Fußgängerbrücke am Bahnhof nach Mandela zu benennen.

Immerhin, dank Umbenennungswesen und Denkmalschleiferei stehen in den sogenannten neuen Ländern, die bekanntlich ebenso wenig neu sind, wie die DDR ehemalig ist, keine Kasernen herum, die nach alten Wehrmachtsgenerälen benannt sind. Hier und da heißt ein Bismarckturm, der zwischendurch Turm der Jugend hieß, wieder Bismarckturm, und mancherorts steht sogar noch der olle Marx herum: Aber einen Hindenburgplatz (hallo Bonn, Berlin, Goslar, Bad Hersfeld, Dachsbach, Münster, Mainz und . . .) müssen wir jetzt nicht mehr umbenennen.

In jedem Fall jedoch ist das hiesige Gedenkkultur-Update etwas aktueller als das vom Königreich Großbritannien oder den USA, wo das Regierungssystem über Jahrhunderte vergleichsweise stabil und demokratisch blieb – und wo jetzt die Statuen im nächstgelegenen Fluss versenkt werden. Vielleicht und ausnahmsweise könnte in diesem Streit die Erfahrung helfen, die zuweilen mit dem verunglückten Begriff der doppelten deutschen Vergangenheitsbewältigung zusammengefasst wird.

Und diese Erfahrung besagt: Mit einem Denkmalsturz ist es selten getan. Irgendwo gibt es immer noch ein Nettelbeckufer, eine Gustav-Freytag-Straße oder einen Herzogsoundso-Turm.

Selbstverständlich sollten Diktatoren, Massenmörder und Kriegsverbrecher nicht geehrt werden, Punkt. Aber Freiheit bedeutet auch, quälende Ambivalenzen auszuhalten, also nicht nur den stalinistischen NS-Widerstandskämpfer Thälmann, sondern auch den antisemitischen Reformator Luther, den sklavenhaltenden Verfassungsvater Jefferson oder den usurpatorischen Aufklärer Napoleon. Wer sich die Welt und ihre Geschichte zu einfach strukturiert, ist es möglicherweise selbst.