Martin Debes hat noch mal Max Weber gelesen.

Menschen, die sich mit Politik beschäftigen, begegnen an jeder beliebigen Stelle Max Weber. Er ist so etwas wie der Pate der Politikwissenschaft. Ein Student des Faches, er heißt Bernhard Vogel, zitierte ihn als Ministerpräsident gefühlt täglich mit dem brancheneigenen Kalenderspruch, dass Politik „ein starkes langsames Bohren von harten Brettern“ sei.

Weber verbrachte übrigens, so viel Lokalpatriotismus muss sein, seine ersten zarten Lebensjahre in Erfurt, selbst wenn er danach, auch das gehört zur Wahrheit, wohl nie hierher zurückkehrte. Immerhin gibt es in seiner Geburtsstadt jetzt ein nach ihm benanntes Kolleg.

So oder so lässt sich mit Webersätzen und Weberworten wie Gewaltmonopol, Verantwortungsethik oder Realpolitik nahezu jedwedes politisches Handeln einordnen. Das Praktische für die Interpreten ist, dass sich der Interpretierte schlecht dagegen wehren kann: Er wurde vor ziemlich genau 100 Jahren von der damaligen Grippepandemie dahingerafft.

Weber definierte auch den Begriff des Berufspolitikers. An ihn stellte er, als hehres Ideal, Anforderungen wie Leidenschaft, Augenmaß, Standfestigkeit. Gleichzeitig schilderte er die nüchterne Realität unter anderem in Gestalt des „Parteibeamten“, der „Ämter oder andere Vorteile“ erwarte.

Das Allermeiste davon besitzt bis heute Gültigkeit. Wer zum Beispiel in die gar liebliche Landschaft schaut, in die Weber hineingeboren wurde, der darf dort alle Facetten des Berufspolitikertums betrachten, gute wie schlechte, exzeptionelle und banale.

Daran ist erst einmal nichts Besonderes. Aber es gibt Eigenarten, die mit der Geschichte und Größe Thüringens zu tun haben. In diesem kleinen Land, dem vor einigen Jahrzehnten fast die gesamte Elite abhandenkam, aus dem seitdem viele Qualifizierte abwanderten und in dem nach den DDR-Erfahrungen das Politikerdasein noch schlechter beleumundet ist, wirkt das Personalangebot, nun ja, äußerst eingeschränkt.

Das Resultat lässt sich vor allem dann betrachten, wenn ein Kabinett zu bilden ist oder Parteispitzen neu zu besetzen sind. Dann werden für Posten, die hohe Kompetenz und Verantwortungsgefühl verlangen, bevorzugt Webersche Parteibeamte gehandelt.

Dabei wirkt das Netz gegenseitiger Abhängigkeiten zwischen Parteien, Parlamenten und Regierung im übersichtlichen Thüringen noch enger als anderswo. Beispiele dafür gibt es in allen Parteien.

Der linke Ministerpräsident und sein Staatskanzleiminister etwa beförderten zuletzt mal eben ihre Büroleiter zu Staatssekretären. In der FDP ist ein Ex-Fraktionsmitarbeiter Parlamentarischer Geschäftsführer und Parteigeneralsekretär. In der CDU war der Referent einer Ministerpräsidentin nebenher Junge-Union-Chef und wurde dann Abgeordneter.

Die grüne Beziehungswirtschaft erscheint sogar wie ein in sich geschlossenes Patronatssystem. Die Bundestagsabgeordnete, die in Berlin die Fraktion führt, fing einst als Fraktionsreferentin im Landtag an. Zwei ihrer Ex-Büromitarbeiter sitzen als Ministerin und Minister im Landeskabinett, der neu berufene Parteigeschäftsführer kommt aus ihrem Wahlkreisbüro. Die Landeschefin wiederum arbeitete im Abgeordnetenbüro eines Ministers.

Und ja, auch die AfD kann längst „Altpartei“: Zwei vormalige Fraktions- oder Parteimitarbeiter sind jetzt Fraktionsmitglieder.

Dies impliziert ausdrücklich keine Aussage über die Fähigkeiten der einzelnen Politiker. Gerade Max Weber mied simple Verallgemeinerungen – weshalb er sogar, jenseits aller nötigen Kritik, auch ein paar Nettigkeiten über die „Pariakaste“ der politischen Journalisten zu sagen wusste.

Dennoch braucht es gerade heute, in Zeiten multipler und eskalierender Krisen wieder mehr Menschen, die weniger Parteibeamte sind und mehr dem Ideal des Berufspolitikers genügen – und die in ihrem Berufsleben mehr als das Innere eines Verwaltungsapparats oder Parlaments gesehen haben.

Weber schrieb: „Wer vollends Politik als Beruf betreiben will, hat sich jener ethischen Paradoxien und seiner Verantwortung für das, was aus ihm selbst unter ihrem Druck werden kann, bewusst zu sein.“ Wie wäre es also, wenn die Landesparteien zur nächsten Wahl stärker Leute nach vorne stellten, die diesem Anspruch gerecht werden können?

Ja, klar doch, diese Aufforderung klingt wohlfeil. Aber dass Thüringen deutlich mehr gute, unabhängige Bohrexperten benötigt, vermag niemand zu dementieren.