Martin Debes über Verantwortung.

Das Corona-Virus macht nicht nur krank. Es produziert Fragen. Zum Beispiel: Warum steht Thüringen in der Pandemie so schlecht da? Warum gibt es hier mehr Infektionen und mehr Tote als anderswo in Deutschland?

War es die Kommunikation der Landesregierung? Erst gegen den Lockdown, dann für den Lockdown. Erst die Schulen bis Ostern schließen, dann die Schulen öffnen, dann wieder nicht ganz. Erst ein eigener Stufenplan, und dann vorläufig doch nicht.

Oder war es die Impfstrategie? Zuerst wurde vor allem das Klinikpersonal geimpft, und dies mit dem Impfstoff, der für die Alten über 65 Jahre zugelassen war. Parallel dazu wurde der Kassenärztlichen Vereinigung das komplette Management übertragen, einer überbürokratisierten Abrechnungsmaschinerie, die traditionell nicht selbstkorrekturfähig ist. Deshalb konsultierte sie auch nicht die Kommunen, bevor sie Impfstationen einrichtete, die nicht wirklich barrierefrei waren oder in deren Nähe es nur wenige Parkplätze gab. Dass Hotline und Online-Anmeldeplattform zusammenbrachen, dass die Terminvergabe ein Glücksspiel ist und dass es immer noch keine Wartelisten wie in Bayern gibt, fügt sich ins Bild.

Oder waren es die Verordnungen? Zwischenzeitlich wirkte es so, als befinde sich zwischen den für Bildung und Gesundheit zuständigen Ministerien und der Staatskanzlei ein administratives Bermudadreieck. Fristen und Paragrafen wurden, das kam auch vor, an die Interviewlage des Ministerpräsidenten angepasst. Am Ende hinterließen die sich ständig ändernden Vorschriften bei jenen, die sie auszuführen hatten, einen Schwindeleffekt. Dass sie viele Formfehler enthielten, stellte das Verfassungsgericht ausgerechnet auf Antrag der AfD fest.

Oder waren es irgendwelche diffusen Nachholeffekte, die Welle aus dem nachbarlichen Sachsen oder, das geht immer, die AfD-Wählerschaft in den renitenten Dörfern? Oder war es einfach Schicksal? Wer weiß. Was alle wissen: In Thüringen wurden binnen der vergangenen sieben Tage, auf 100.000 Einwohner gerechnet, 126 Menschen positiv auf das Corona-Virus getestet. Das waren doppelt so viele wie im Bundesschnitt.

Natürlich, die Dinge lassen sich auch regierungsfreundlich betrachten. Alle mühen sich, alle machen Fehler, nicht nur in Thüringen, nicht nur in Deutschland, sondern weltweit. Da kann man doch nicht in einem einzelnen, kleinen Land die Verantwortlichen verantwortlich machen! Außerdem und überhaupt: Hat sich das Land beim Impfen nicht vom letzten auf den ersten Platz vorgearbeitet? Na?

Okay. 5,6 Prozent der Thüringer haben eine Erstimpfung erhalten, das sind 0,7 Prozentpunkte mehr als im Bundesschnitt. Aber bei den Zweitimpfungen liegt das Land eher im Mittelfeld. Und auch in Thüringen sind erst 13.000 von 38.000 Dosen Astrazeneca verimpft. Und die nächsten 43.400 Dosen kommen diese Woche.

Reicht das Tempo für ein Land, das eine doppelt so hohe Inzidenz wie im Bundesdurchschnitt aufweist? Die Gesundheitsministerin antwortet mit einem trotzigen Aber-klar-doch, alles laufe prima, bis auf den Umstand, dass der Bund zu wenig bestellt habe, aber dafür könne man nun wirklich nix.

Hinweise oder gar Kritik sind ausdrücklich unerwünscht. Selbst Mahnungen des Wissenschaftlichen Beirates werden beiseite gewischt, der kann ja viel erzählen.

Denn schließlich, so lobt sich das zuständige Ministerium, öffnen doch die ersten beiden großen Impfzentren am 10. März, zudem beginnen einige Arztpraxen, probeweise zu impfen. Die logische Anschlussfrage, warum die Zentren trotz der Reserve nicht längst aufhaben und die Hausärzte nicht schon impfen, sollte man, siehe oben, lieber nicht stellen.

Nein, am Ende lässt sich auch ein Jahr nach dem Ausbruch der Pandemie in Thüringen nicht präzise sagen, warum sie hier besonders stark grassiert. Fest steht aber, dass es so ist – und dass sich die Landesregierung am Mittwoch, wenn Bund und Länder den Lockdown-Exit beraten, in einer blöden Lage befindet. Denn womöglich öffnen danach die Läden in Bayern, Hessen, Niedersachsen und Sachsen oder sogar in Sachsen-Anhalt – und in Thüringen nicht.

Aber das ist dann wahrscheinlich auch, was sonst: Schicksal.