Zwischenruf: Martin Debes versucht sich hobbypsychologisch.

Wenn man den Ministerpräsidenten von Thüringen in einem Wort beschreiben müsste, dann passte am besten der Begriff des Suchenden. Selten nimmt Bodo Ramelow etwas für gegeben an, zumeist zweifelt und verzweifelt er: an sich selbst, an den Dingen, an Gott, an den Mitmenschen, an seiner Partei und, wer könnte es ihm verübeln, an journalistischen Schlaumeiern und Naseweisen.

Da Ramelow ein sehr öffentliches Wesen ist, im Alltag, in der Politik und im Internet, findet dieses Suchen ebenso öffentlich statt. Er verarbeitet sein Leben vor Publikum, seine schwere Kindheit, die Legasthenie, Krankheiten in der Familie, der Verlust eines Freundes, politische Erfolge, menschliche Niederlagen, einfach alles.

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In Krisen treten die Eigenheiten eines Menschen besonders deutlich hervor. Und so begab sich Bodo Ramelow in diesem Jahr auf die öffentliche Suche nach einem Ausweg aus der Pandemie. Im März sprach er, die Familie seiner Frau in Parma vor Augen, von möglichen 60.000 Toten in Thüringen. Dann, im Mai, als die erste Welle noch nicht verebbt war, stellte er die Kontaktbeschränkungen infrage, um dies dann, das ist auch ein Muster, nicht so gesagt haben zu wollen. Ende Oktober, als sich die zweite Welle längst aufbaute, sprach er sich gegen einen erneuten Lockdown aus, nur um ihn kurz darauf widerstrebend mitzutragen.

Nun, seit Thüringen ein einziger großer Hotspot zu sein scheint, ist der Ministerpräsident vom März wieder da, erscheint die Suche im Kreis vollendet. Dass er, auf Anfrage dieser Zeitung, die komplexe Weihnachtsfrage in finalem Beschlusston beantwortete, ohne Kabinett oder Parlament zu konsultieren: Das war, jenseits der Feststellung, dass er inhaltlich wohl Recht hat, ein typischer Ramelow. (Und ja, wir fragen an und berichten, das ist unsere Aufgabe.)

Die Leute, die ihn umgeben, in seiner Linken, in der Staatskanzlei, im Landtag, beteuern zu diesen Gelegenheiten immer wieder, was der Kolumnist nach zwei wechselvollen Beobachtungsdekaden bestätigen muss: Ramelow kann sich wirklich mit einer Situation quälen. Dann leidet er derart darunter, dass sie ihm den Schlaf raubt, die Nerven und seine sowieso prekäre Contenance.

Hinzu kommt das Ego, das Ramelow zuweilen regelrecht triggert. Die skandalöse Schmach, dass er, der freie Bürger und Abgeordnete, von diesem merkwürdigen Verfassungsschutz überwacht wurde, trieb ihn durch alle Instanzen bis hin zum Bundesverfassungsgericht, wo er schließlich siegte. Doch die Kränkung wirkt nach. Wird er darauf angesprochen, und dies auch noch von den Falschen, dann ist, wie nach einer provokanten Frage des „Spiegel“, das Interview beendet – oder, wie nach der dreisten Bemerkung eines AfD-Abgeordneten, der mittelfingerbewehrte „Drecksack“ fällig.

Diese Distanzlosigkeit zu sich selbst und zu anderen, dieses Zurschaustellen von Widersprüchen und Gefühlen, diese Dauerberichterstattung aus dem eigenen Inneren, bedeutet im Umkehrschluss eine hohe, einmalige und zuweilen anrührende Nahbarkeit. Sie macht die besondere Wirkung des Politikers Ramelow aus. Dass er hochintelligent, rhetorisch begabt und strategisch versiert ist, dass er vernunftgesteuert agiert, aber auch instinktiven Populismus kann, dass er ideologische Grundüberzeugungen besitzt und gleichzeitig schlichte Realpolitik betreibt: Das alles ist ein Teil der Erklärung seiner Karriere. Aber wirklich erfolgreich macht ihn erst seine intuitiv-impulsiv-interessante Art, seine Emotionalität. Nur so hat er fast allein eine Partei, die anderswo schrumpfte, an die Spitze einer Landesregierung geführt.

Dieser Befund ist, jaja, nicht unbedingt originell, und er wurde auch schon an dieser Stelle beschrieben. Was neu ist, ist die Situation. Zwar hat Bodo Ramelow eine Flüchtlings- und eine sehr besondere Regierungskrise, in der er mal eben für vier irre Wochen sein Ministerpräsidentenamt verlor, durchstehen müssen – woran er die Öffentlichkeit vollumfänglich teilhaben ließ. Aber die aktuelle, geradezu toxische Kombination aus Pandemie, Wirtschaftskrise, Finanznot, gesellschaftlicher Zerrüttung und einer Minderheitsregierung in einem Vorwahljahr lässt alles das, was diesen Politiker ausmacht, noch einmal deutlicher hervortreten. Und wir sind live dabei.

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