Martin Debes über grüne Personalien.

Es war im November 2008, da stand Cem Özdemir auf einer grün illuminierten Bühne in der Erfurter Messehalle. Er war Anfang 40, das Haar noch schwarz, genau wie seine großen Koteletten.

Er wolle, rief er in den Saal, „für eine Gesellschaft kämpfen, in der alle mitgenommen werden, egal, welche Herkunft sie haben, ob ihre Vorfahren aus Kasachstan oder aus Anatolien kommen, oder ob sie schon gegen die Römer im Teutoburger Wald gekämpft haben“.

Auch Özdemir, der Sohn türkischer Einwanderer, wollte mitgenommen werden. Er bewarb sich hier, auf dem Bundesparteitag, um den Vorsitz seiner Partei.

Der Mann hatte zu diesem Zeitpunkt schon so einiges bei den Grünen erlebt – und überlebt. In den Bundestag zog er 1994 ein, da war er gerade 28, vier Jahre später stieg er zum innenpolitischen Sprecher auf.

Dann, 2002, der Absturz. Özdemir hatte Bonusmeilen von Dienstflügen privat genutzt. Und er hatte sich bei einem PR-Berater 80.000 D-Mark geborgt, um Steuerschulden zu bezahlen. Er legte sein Mandat nieder.

Doch zwei Jahre später war er wieder da, als Europaabgeordneter. Und nochmals vier Jahre später, im Sommer 2008, kündigte er die Kandidatur zum Bundesvorsitz an. Dass er vor allem in Brüssel unterwegs war, sollte die Partei nicht stören: Er kandidierte ja wieder für den Bundestag. Doch hier gab es ein größeres Problem. Auf dem Listenparteitag in Baden-Württemberg verwehrten ihm die Delegierten einen sicheren Listenplatz. Er verlor die Kampfkandidaturen – womit so gut wie klar war, dass er nicht in Berlin im Parlament sitzen würde.

Trotzdem bewarb er sich in Erfurt neben Claudia Roth für den Doppelvorsitz der Partei. Dank vieler Absprachen, einer fulminanten Rede und mangels Konkurrenz kam er auf fast 80 Prozent der Stimmen.

Katrin Göring-Eckardt, ein halbes Jahr jünger als Ödzemir, war damals in der Erfurter Messehalle dabei. Auch sie hatte schon so einiges erlebt. 1998 war sie für die Thüringer Grünen in den Bundestag eingezogen und 2002, als alle Parteigrößen in der Bundesregierung versorgt waren, zur Fraktionsvorsitzenden aufgestiegen. Doch schon 2005, zum Ende von Rot-Grün, wurde sie von Ex-Ministerin Renate Künast verdrängt. Nun saß sie auf dem Trostposten der Bundestagsvizepräsidentin – und wartete.

2012, ein Jahr vor der Bundestagswahl, hielt Göring-Eckardt ihre Chance für gekommen. Sie bewarb sich gegen die Parteivorsitzende Roth und Fraktionschefin Künast um die weibliche Spitzenkandidatur – und gewann zur Überraschung aller.

Gemeinsam mit Jürgen Trittin zog sie in den Wahlkampf, in dem sie, die bisher immer als Realpolitikerin aufgetreten war, sich plötzlich linkssozial präsentierte. Obwohl die Grünen am Wahltag sehr mäßig abschnitten und Trittin sich zurückzog, kandidierte Göring-Eckardt wieder für den Vorsitz der Fraktion. Weil ihr aus dem eigenen Realo-Flügel eine – auch von Ödzemir gestützte – Konkurrentin entgegen trat, verbündete sie sich mit der Parteilinken. Wieder gewann sie.

Nach diesem taktischen Sieg galt Göring-Eckardt in der Partei als unverwundbar. Bei der Urwahl zur Spitzenkandidatur 2017 wagte es keine Frau, gegen sie anzutreten. Bei den Männern stritten ihr Co-Fraktionschef Toni Hofreiter, der Kieler Umweltminister Robert Habeck und Parteichef Özdemir miteinander.

Özdemir gewann mit 75 Stimmen gegen Habeck – bei 33.935 gültigen Wahlzetteln. Zusammen mit Göring-Eckardt führte er die Partei in die Bundestagswahl und verhandelte danach mit Union und FDP über eine Regierung. Er Außenminister, sie Vizekanzlerin: Die beiden hätten ihr Arrangement gefunden.

Doch dann ließ die FDP die Gespräche platzen, die Groko wurde neuaufgelegt und Özdemir sah ein, dass er sich nach fast einer Dekade nicht mehr an der Parteispitze halten würde. Eine Kampfkandidatur für den Fraktionsvorsitz erwog er, sah aber noch keine Mehrheiten für sich. Also übernahm er den Trostvorsitz im Verkehrsausschuss – und wartete.

Nun, zur Neuwahl des Fraktionsvorsitzes in der Mitte der Wahlperiode, greift Cem Ödzemir Katrin Göring-Eckardt an. Es gilt, sich für künftige Kabinette und andere schöne Gelegenheiten aufzustellen.

Wer den Kampf gewinnt, ist ungewiss. Özdemir kann besser reden, Göring-Eckardt besser netzwerken. Bei Willen und Ehrgeiz liegen sie gleichauf. Vor allem aber: Beide wissen sehr genau, wie Überleben geht.