Martin Debes über den Ministerpräsidenten.

Die Ansage klang mutig: Ab dem 6. Juni sollten alle Einschränkungen aufgehoben werden, die vom Land während der Corona-Pandemie erlassen wurden. Stattdessen werde die Landesregierung darauf achten, dass die Kommunen rasch und konsequent auf lokale Ausbrüche reagierten.

Dies kündigte der Ministerpräsident an, ins Wochenende hinein, damit es schön einwirken konnte. Es war ein typischer Bodo Ramelow: eine überraschende, nicht mit Kabinett oder Koalitionspartnern abgestimmte, in sich widersprüchliche Wendung - geleitet von Überzeugungen, aber auch von Instinkt und Kalkül. So kennen und fürchten ihn die meisten, die mit ihm zusammen regieren.

Die Argumente, mit denen Ramelow hantiert, sind in Teilen nachvollziehbar. So liegt in größeren Teilen Thüringens die Wahrscheinlichkeit, sich mit dem Coronavirus anzustecken, inzwischen bei annähernd Null.

Ramelow setzt andere Länder unter Druck

Aber es gibt mindestens ebenso gute Argumente dagegen. So ist ja bloß die erste Welle der Pandemie überstanden; die zweite, größere, vor der die Virologen warnen, könnte jederzeit beginnen. Sollte man da wirklich ein derart pauschales Signal aussenden?

Nebenher wirkt der Schritt egoistisch - gegenüber dem Bund und den anderen Ländern, die Ramelow damit unter Druck setzt, aber auch gegenüber den Kommunen, die nun fast allein Hauptverantwortung tragen sollen. Entsprechend harsch fiel die Kritik aus.

Aber keine Entscheidung ist nur inhaltlich-rational begründbar, schon gar nicht bei Politikern - und schon gar nicht bei diesem Ministerpräsidenten. Denn da ist ja noch sein gut ausgeprägter Instinkt. Ramelow sieht, dass der Stimmungstrend längst in die nun von ihm vorgegebene Richtung läuft. Und sich an die Spitze einer Bewegung zu setzen, anstatt ihr hinterher zu trotten: Dies ist eines der ältesten politischen und ja, populistischen Manöver.

Das zugehörige Kalkül hat mit der Landtagswahl zu tun, die, so lautet jedenfalls der Plan, in elf Monaten stattfinden wird. Dann soll Ramelows Name nicht mit den Einschränkungen und deren ökonomisch-sozialen Folgen verbunden sein, sondern mit den sogenannten Lockerungen. Auch deshalb blieben von Anfang an in Thüringen die Baumärkte offen, wurden früher als anderswo Demonstrationen oder Gottesdienste wieder zugelassen und besuchte der Ministerpräsident eine Beerdigung, an der er laut der von ihm beschlossenen Verordnung nicht hätte teilnehmen dürfen.

Sein Problem war bislang nur: Obwohl er viel und gerne über seinen Freisinn redete, nahmen dies nur eher wenige der potenziellen Wähler wahr, welche die Maßnahmen kritisch sehen und ihren Protest irgendwo abladen wollen.

Dazu bleibt die politische Lage im Land prekär. Die CDU ist zerstritten, schwach und führungslos, derweil FDP, Grüne und sogar die SPD froh sein können, wenn sie es nächstes Jahr wieder in den Landtag schaffen. Damit ist Ramelows zentraler Konkurrent erstmals eine völkisch gefestigte Thüringer AfD, die trotz der Kämpfe in der Bundespartei in den Umfragen die zweitstärkste Kraft im Land ist.

Und, diese AfD hat gezeigt, dass sie keine Lüge und Geschichtsverfälschung scheut, um sich als einzig wahre Bürgerrechtspartei zu verkaufen. Zu den eingeübten Angstszenarien „Euro-Ausverkauf“ und „Umvolkung“ gesellt sich nun noch die finstere Mär von der „Corona-Diktatur“. So gaga es ist, dass AfD-Landeschef Björn Höcke Ramelow als „Ministerpräsidenten der Angst“ bezeichnet, der mit Masken und Kontaktverboten ein Willkürregime errichten wolle, so bedacht ist es auch.

Die Spannung zwischen den beiden Polen ist auch deshalb so groß, weil mit Ramelow und Höcke zwei Solitäre aufeinandertreffen, die selbst dann, wenn sie irrlichtern, dies machtpolitisch effektiv tun. Höcke hat aus einer Minderheitsposition heraus nahezu die gesamte AfD auf seinen Kurs gedrängt. Ramelow wiederum bildete als einziger linker Ministerpräsident der Republik die erste rot-rot-grüne Landesregierung, um es nach seiner skandalumtosten, von Höcke orchestrierten Abwahl zurück an die Spitze der einzigen deutschen Minderheitsregierung zu schaffen.

Auch wenn der Ministerpräsident am Montag manches von seinen Ankündigungen relativieren musste, was Höcke sogleich per Mitteilung als „Zurückrudern“ von AfD-Positionen geißelte: Die gewünschte Botschaft ist erst einmal gesetzt. Der Wahlzweikampf hat begonnen.

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