Martin Debes über den Ministerpräsidenten a. D.

Am 5. Februar dieses Jahres, nachmittags um kurz vor halb zwei, hatte Thomas Karl Leonard Kemmerich aus Erfurt (oder Weimar, das Oberverwaltungsgericht wird es uns mitteilen) Geschichte geschrieben. Er war mit den Stimmen der AfD zum Ministerpräsidenten gewählt worden.

Kemmerich hatte nun selbst, und zwar ganz allein und souverän, eine Wahl, wie diese unschöne Geschichte weiterzuschreiben sei. Er konnte sagen, dass er sich einem linken Amtsinhaber, der keine Mehrheit mehr hinter sich versammeln konnte, aus Prinzip als bürgerlicher Kandidat entgegenstellen musste, dass er aber seine Wahl durch eine Fraktion, die von einem Rechtsextremisten geführt werde, nicht annehmen könne.

Der Liberale hätte damit binnen Sekunden eine Fast-Katastrophe in einen grandiosen Sieg verwandelt. Er hätte Ramelow erledigt und das brüchige Konstrukt einer rot-rot-grünen Minderheitsregierung zerstört. Stattdessen wäre aus der Illusion eines bürgerlichen Minderheitsbündnisses von CDU, SPD, FDP und Grünen eine reale Möglichkeit geworden, nicht mit ihm als Ministerpräsidenten, aber als gar nicht so geheimen Helden.

Doch Kemmerich entschied sich bekanntlich für die Fata Morgana schneller Macht; nicht übermannt, wie es sein Bundesvorsitzender Christian Lindner entschuldigte, sondern aus dreist-fahrlässigem Kalkül. Er nahm die Wahl an und erschütterte die Republik.

Die AfD triumphierte, die CDU zerfiel, die FDP zerriss es. Schon tags darauf musste Kemmerich seinen Rücktritt ankündigen. Er amtierte dann noch ohne Kabinett bis zum 4. März, an dem dann wieder Ramelow ins Amt gelangte.

Vier Monate später tut Thomas Kemmerich längst so, als sei nie etwas gewesen, kein Dammbruch, kein Beben, kein nichts. Er leitet die Landespartei und sitzt im Landtag als Fraktionschef und geht sogar in den Erfurter Stadtrat, obwohl ein Gericht befunden hat, dass er dort nicht mehr hingehört, weil er ja mit seiner Familie in Weimar wohnt.

Nur weil er es zu allem Überfluss auch noch hinbekam, sich auf eine Demonstration mit Reichsbürgern, AfD-Politikern und Verschwörungstheoretikern zu begeben, um sich als „einziger legitimer Ministerpräsident“ anpreisen zu lassen, wurde er zumindest in Berlin dazu genötigt, seinen Bundesvorstandsposten abzugeben. Darüber hinaus gab er den Chefposten der liberalen Mittelstandsvereinigung ab.

In Thüringen hingegen schafft Kemmerich es bisher, sich durch die Landes- und Kommunalpolitik zu schlawinern. Es ist ja nicht so, dass der Thomas, wie ihn seine Kumpel und Karnevalisten nennen, ein schlechter Mensch wäre. Er hat zwei Unternehmen aufgebaut, mit seiner Frau sechs Kinder großgezogen und die FDP mit einer effizienten Kampagne zurück in den Landtag geführt. Während des Wahlkampfs hielt er passable Reden, besetzte die Themen Wirtschaft und Bildung – und grenzte sich gleichermaßen deutlich gegen AfD und Linke ab.

Doch Entscheidungen haben Konsequenzen. Und die Entscheidung, die Kemmerich am 5. Februar nachmittags gegen halb zwei traf, lässt sich nicht wegschweigen. Je näher das Superwahljahr 2021 rückt, je schlechter die Umfragewerte werden und je radikaler sich die AfD gebärdet, umso unhaltbarer wird der Zustand, in dem sich die Thüringer FDP gemeinsam mit ihrem Partei- und Fraktionsvorsitzenden befindet – zumal er sich sogar hartnäckig die Perspektive offen hält, zur Neuwahl des Landtags im nächsten Jahr wieder als Spitzenkandidat anzutreten.

Kann das Kemmerich wirklich wollen? Und wird da seine Landespartei tatsächlich mitmachen? Wie, bitteschön, soll das denn in einem real existierenden Universum funktionieren?

Schon erscheinen in Berlin die ersten Artikel darüber, wie sehr sich doch der Bundesvorstand einig sei, dass Kemmerich eine Belastung darstelle. Und Lindner, der behauptet, dass er sich natürlich nicht in Thüringen einmischen wolle, sagt gleichzeitig in die Kameras, dass er sich anstelle des hiesigen Landeschefs eine neuerliche Spitzenkandidatur sicher „nicht antun“ würde.

Und so muss Thomas Kemmerich demnächst wieder eine wichtige Entscheidung treffen – und zwar darüber, was er seinem Land, seiner Partei, seiner Familie und, Ja, sich selbst zumuten will. Vielleicht, aber nur vielleicht, wird es diesmal die richtige sein.

Diese Kolumne erscheint das nächste Mal am 11. August.