Martin Debes über den neuen Landtag.

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as Leben ist eine zuweilen ziemlich unordentliche Angelegenheit. Dieser Befund gilt insbesondere für den siebten Thüringer Landtag, der sich an diesem Dienstag konstituiert. Sechs Parteien und keine erkennbaren Mehrheiten: Das ist der Stand auch am 30. Tag nach der Landtagswahl.

Immerhin, die Luftstaatskanzlei, die der CDU-Vorsitzende in den vergangenen 30 Tagen mit halber Kraft aufpustete, ist wieder eingeschrumpft und liegt einstweilen im Schrank der vergebenen Möglichkeiten. Bei der Landtagsabstimmung über den Ministerpräsidenten gäbe es für Mike Mohring nur die Option, kläglich zu scheitern – oder mit AfD-Stimmen ins Amt zu gelangen. Damit erledigt sich selbst für einen Taktiker jede Taktik.

Ansonsten zeichnen sich immer deutlicher die Konturen jenes Szenarios ab, das von Anfang an die Logik nahelegte. Irgendwann im Februar oder spätestens März wird sich der geschäftsführende Ministerpräsident von der Linken zur Wiederwahl stellen. Er darf dann mindestens auf die 42 Stimmen seiner Partei sowie von Sozialdemokraten und Grünen zählen, während AfD, CDU und FDP gegen ihn stimmen dürften. Eine formale Tolerierungsvereinbarung erscheint zumindest zurzeit nicht mehr vorstellbar.

Somit würde Bodo Ramelow im ersten und zweiten Wahlgang die nötige absolute Mehrheit verfehlen, um dann im dritten Wahlgang mit relativer Mehrheit gewählt zu werden. Die offiziellen oder informellen Gespräche mit CDU und FDP könnten zu diesem Zeitpunkt dazu geführt haben, dass sich zumindest einige ihrer Abgeordneten enthalten, um dem Land die verfassungsrechtlich heikle Situation zu ersparen, dass es einen Regierungschef gäbe, der mit mehr Nein- als Ja-Stimmen gewählt wäre.

Doch danach wird es erst richtig interessant. Denn das Parlament, das höchste Verfassungsorgan, wird erstmals in der jüngeren Thüringer Geschichte zum mächtigsten Verfassungsorgan. Die Gewalten werden neu geteilt, auf eine Art, wie sie eher der gemeinen Vorstellung von parlamentarischer Demokratie entspricht.

Bisher funktionierte die Gesetzgebung in Thüringen so wie überall in der Republik: Das Kabinett beschloss die meisten Entwürfe, die dann im Parlament von der Regierungsmehrheit nachjustiert und verabschiedet wurden. Dagegen fielen nahezu alle Anträge oder Entwürfe der Opposition durch. Dass einzelne Regierungsfraktionen von diesem Prinzip abwichen, verbot der Koalitionsvertrag, derweil sich die einzelnen Abgeordneten durch den Fraktionszwang gebunden sahen.

Eine rot-rot-grüne Minderheitsregierung müsste sich jedoch für ihre Entwürfe erst einmal eine Mehrheit im Landtag suchen. Da diese Koalition nicht die AfD ansprechen würde, müsste sie sich mindestens vier Stimmen von CDU und FDP besorgen. Insbesondere die Liberalen gelangten damit in eine entscheidende Position: Ihre fünf Abgeordneten könnten sich schneller als die 21 CDU-Abgeordneten einigen und somit de facto mitregieren.

Daraus könnte eine Dynamik entstehen, in der vieles möglich erschiene: Anträge von CDU und FDP, die dann mit allen oder einigen rot-rot-grünen Stimmen verabschieden würden. Entwürfe einzelner Abgeordneter, die in den Ausschüssen debattiert und verändert würden, bis sie eine Mehrheit fänden.

Natürlich wird da immer die Versuchung für CDU und FDP sein, mithilfe der AfD die rot-rot-grüne Minderheit auflaufen zu lassen oder sie gar zu dominieren. Und natürlich kann das Experiment spätestens in einem Jahr enden, wenn es im Landtag keine Mehrheit für einen Haushalt 2021 gibt, hinter dem auch die Regierung halbwegs steht.

Zumal: Sonderlich stabil wirkt das Ganze nicht. Und Stabilität ist wichtig für Wachstum, Investitionen, Sicherheit. Aber, und auch das haben die vergangenen Jahre gezeigt: Stabilität ist kein Selbstwert. Wenn sich Debatten entleeren und ritualisieren, wenn das Parlament scheinbar zum Vollzugsorgan verkommt, emanzipiert sich der Souverän, und dies mitunter auf erschreckend extreme Weise.

Somit mag diese ganz und gar unordentliche Situation in Thüringen eine Zumutung sein, für die Beteiligten sowieso, aber auch für die Wähler, die sie herbeiführten. Aber diese Situation ist auch eine Chance für Thüringen und weit über dieses kleine Land hinaus. Sie ist eine Chance für eine Demokratie, die ohne Demokratieverächter in den Parlamenten auskommt.