Martin Debes zur Verantwortung Deutschlands.

Diese Pandemie wird nicht nur Hunderttausenden Menschen das Leben kosten. Sie wird diese Welt verändern und unsere Sicht darauf.

Sie wird die Art und Weise, wie wir zusammenleben, neu definieren. Sie wird Entwicklungen wie die Digitalisierung beschleunigen und andere ausbremsen. Und sie wird dazu führen, dass sich Institutionen entweder grundlegend reformieren oder eingehen.

Schon jetzt fühlt sich vieles so an wie 1989 und 1990. Auch wenn die ökonomischen Rahmenbedingungen und die politischen wie geostrategischen Umstände völlig andere sind: Wer diese Zeit erlebte, wird jetzt daran erinnert, wie Dinge, die zuvor fest gefügt erschienen, binnen Tag bröckelten, wie Gewissheiten zerstoben, wie man jeden Tag neu dazulernte und sich jeden Tag selbst korrigieren musste.

Vor allem aber: Damals wie heute befinden wir uns inmitten historischer Umwälzungen, für die das, was gerade passiert, nur als Katalysator dient. Vor drei Jahrzehnten wirkten die Ereignisse wie der Aufbruch in eine neue Zeit von Frieden und Freiheit. Das Versprechen von Aufklärung und Demokratie schien sich zu erfüllen. Neben den USA stand als Garant die Europäische Gemeinschaft, die sich zur Union festigte und den Ostblock integrierte.

Doch der Westen hatte nicht gesiegt. Der Dualismus des Kalten Kriegs wurde nur abgelöst von einer neuen, unübersichtlichen Weltunordnung, in der die alten Großmächte Konkurrenz bekamen und in der Europa zunehmend seine Stellung einbüßte.

Vor allem aber: In ihrem richtigen Streben, stärker zusammenzuwachsen, ging die Union den dritten Schritt vor dem zweiten. Anstatt, nachdem der gemeinsame Markt und die Freizügigkeit organisiert waren, die Außen- und Sicherheitspolitik zu harmonisieren und sich um eine echte Wirtschafts- und Sozialunion zu kümmern, wurde eine Gemeinschaftswährung eingeführt, begleitet von Hunderten Verordnungen, die tief in alle Lebensbereiche eingriffen. Das Prinzip der Subsidiarität, wonach die Probleme dort zu lösen sind, wo die höchste Lösungskompetenz vorhanden ist, wurde beschworen, aber ignoriert.

Das rächte sich spätestens vor mehr als zehn Jahren, als die Union in die globale Finanz- und Wirtschaftskrise schlitterte. Nun zeigten sich nicht nur die Konstruktionsfehler der Gemeinschaftswährung, sondern auch die alten nationalen Egoismen. Die EU zerteilte sich rapide in Arm und Reich, in Nord und Süd, in Ost und West. Nur mühsam und unter teils fragwürdigen Umständen wurde ein Rettungsschirm errichtet.

2015 folgt die sogenannte Flüchtlingskrise. Diesmal entzweiten sich vor allem Binnen- und Grenzländer. So etwas wie eine gemeinsame Politik kam kaum mehr zustande. Der Minimalkonsens bestand darin, die Außengrenzen dichtzumachen, mit allen humanitären Folgen. Dann kam der Brexit, der zumindest den Beteiligten wieder die Vorteile des gemeinsamen Marktes vorführte.

Jetzt, dank eines Virus, liegen die Defizite der EU vollends bloß. Zu Beginn dieser Pandemie war so etwas wie eine Union nicht einmal zu erkennen. Mitgliedsstaaten schlossen einseitig ihre Grenzen, wobei ausgerechnet jene vorangingen, die vor 30 Jahren für Freizügigkeit gekämpft hatten. Auch bei der Versorgung mit Atemschutzmasken, Schutzkleidung oder Beatmungsgeräten dachte jedes Land zuerst an sich. Transporte wurden teilweise umgeleitet, die medizinische Hilfe beschränkte sich auf Symbolik.

Dass jeder Nationalstaat erst einmal Hilfspakete für die eigenen Unternehmen und Menschen beschloss, folgte noch einigermaßen der Logik der Schnelligkeit. Doch was ist mit der Rettung des gemeinsamen Marktes und des erneut bedrohten Euro? Was ist mit echter Solidarität, die mehr ist als wohlfeile Rhetorik?

In der Not denkt eben jeder an sich zuerst, das gilt für Menschen wie für Staaten. Und es gilt leider auch für Deutschland, obwohl es in einer besonderen Verantwortung steht, als größtes und reichstes Mitgliedsland, das einst unermesslich viel Leid über seine Nachbarn brachte – und das jetzt wieder gemeinsame Anleihen blockiert, so, als habe es nicht am meisten von der EU profitiert.

Wir alle stehen vor einer historischen Entscheidung: Gewinnen die Zentrifugalkräfte und wird die Agenda von Rechtspopulisten diktiert? Oder gibt es noch eine Chance für ein Europa, wie es vor 30 Jahren erträumt wurde?