Martin Debes über den 5. Februar 2020.

Die Dunkelheit hat sich über Erfurt gelegt, als Thomas Kemmerich durch das hintere Tor auf den Hof der Thüringer Staatskanzlei fährt; das seitliche Tor und der vordere Eingang sind von Hunderten Menschen verstellt. Er geht in sein Büro im ersten Stock, am Ende des Ostflügels. Von unten sind die Lieder und Rufe der Demonstranten zu hören. Er setzt sich an den Schreibtisch, aus dem kurz zuvor Bodo Ramelow seine Papiere räumte. Er ist jetzt Ministerpräsident.

Später läuft Kemmerich hinüber in den Barocksaal, wo die Fernsehsender ihre Kameras aufgebaut haben und versucht zu erklären, wie er, der Chef der kleinsten Landtagspartei, fortan Thüringen regieren will. Er redet viel, sagt Sätze auf. Aber er hat keine Ahnung.

An jenem 5. Februar 2020 ist etwas Historisches geschehen. Um 13.26 Uhr gewann der FDP-Landeschef im Landtag die Wahl zum neuen Regierungschef, er bekam eine Stimme mehr als Ramelow, der geschäftsführende Amtsinhaber. Die AfD hatte ihren Kandidaten, einen Dorfbürgermeister, im dritten und entscheidenden Wahlgang nur zum Schein aufgestellt und insgeheim für Kemmerich votiert. Zusammen mit fast allen Stimmen aus seiner Partei und der CDU reichten die Stimmen der AfD zur Mehrheit.

Eine in Teilen rechtsextremistische Partei entschied darüber, wer Ministerpräsident wird. Seit dies feststeht, seit 13.26 Uhr, fegt ein politischer Sturm über Deutschland, der, das ist schon an diesem Abend klar, viele und vieles mit sich reißen wird. Ein gewöhnlicher Wahlakt ist zur historischen Zäsur geworden, sie teilt die bundesdeutsche Geschichte in ein Davor und ein Danach auf.

Während Kemmerich sein neues Büro inspiziert, sitzt sein Vorgänger in seinem Ferienhaus nahe Saalburg-Ebersdorf, mit Blick auf die Bleilochtalsperre, und wartet auf einen Reporter des „Spiegel“. Ramelow ist vor den Medien aus Erfurt geflüchtet, aber mit Steffen Winter wird er reden. Die beiden kennen sich seit den 1990er-Jahren, als Ramelow noch Gewerkschaftssekretär war und Winter für die Thüringische Landeszeitung arbeitete.

Als Winter vor dem Haus vorfährt, sieht er keine Dienstlimousinen und keine Sicherheitsbeamten, sondern nur Ramelows Skoda. Drinnen findet der Reporter neben dem abgewählten Ministerpräsidenten dessen Ehefrau Germana Alberti vom Hofe vor, und Attila, den Terrier, der ganz aufgeregt ist, weil er draußen, am Waldrand, einen Fuchs gewittert hat.

Ramelow wirkt verletzt, verwundet. Eine dreiviertel Stunde erzählt er das, was er gerade so denkt. Ramelow hat druckreif geredet, später autorisiert er den Interviewtext unverändert. Damit wird das Gespräch zu einem Zeitdokument, das den authentischen Blick in das Innere eines Mannes gestattet, der noch am Morgen nichts von seinem Schicksal ahnte, aber am Abend fest davon überzeugt ist, das Opfer einer Verschwörung, eines rechten Putsches zu sein.

„Ich bin von Thomas Kemmerich, dem CDU-Landesvorsitzenden Mike Mohring und anderen menschlich zutiefst enttäuscht“, sagt er. „Weil sie lieber mit Faschisten regieren wollten, als nicht zu regieren.“ Mohring habe „den Steigbügel von Höcke gehalten.“

Ramelow erinnert an den Auschwitz-Gedenktag, spricht von „verbrannter Erde“. Er, der „beliebte Ministerpräsident“, sei von Faschisten und ihren „Erfüllungshilfen“ gestürzt worden.

Doch so propagandistisch verwertbar diese Aussagen sein mögen, so sehr vereinfachen sie eine hochkomplexe Situation. Ramelow selbst wird später einen Pakt mit dem CDU-Politiker Mario Voigt schließen, der, im Gegensatz zu Mohring, Kemmerich zur Kandidatur ermuntert hatte.

Erst recht lässt sich Geschichte nicht in eine Parole pressen, wie es Kemmerich zuletzt im „Cicero“ versuchte. Dass sich die CDU einer Regierung unter ihm verweigerte, weil sie sich einem „Diktat der Kanzlerin aus Südafrika“ beugte, ist nicht nur reinster AfD-Sprech, sondern falsch.

Ab Mittwoch erscheint in dieser Zeitung eine kurze Artikelserie, die mit journalistischen Mitteln zu beschreiben versucht, wie es zur Wahl von Thomas Kemmerich kam. Doch damit ist das, was damals geschah, längst nicht auserzählt. Es ist bestenfalls ein Anfang.