Martin Debes über Schreie im Wald

Die Sommertour, das wurde schon in früheren Sommerkolumnen beschrieben, ist inzwischen ein unvermeidlicher Bestandteil des Sommerpolitikgeschäfts, so wie das Sommerinterview und das Sommerloch. Das gilt insbesondere für einen Vorwahlkampfsommer.

Und so kam es, dass eines Sommertags ein nicht mehr ganz junger Mann in himmelblauem Poloshirt, Brille und karierter Schiebermütze in dem kleinen Ort Hirschberg stand. Er gestikulierte aufgeregt, hüpfte fast, während er Sätze wie diesen schrie: „Der Wald verreckt, seht ihr das nicht?“

Vielleicht lag es an der Hitze, oder vielleicht auch daran, dass sich Schöneres vorstellen lässt, als auf ein paar andere nicht mehr ganz junge Männer zu treffen, die einem mal eben vorwerfen, den eh arg geplagten Wald ideologiebedingt sterben zu lassen. Wahrscheinlich hatte es aber insbesondere damit zu tun, dass der Mann mit der Schiebermütze Bodo Ramelow war.

Der linke Ministerpräsident, auch dies wurde bereits an dieser Stelle thematisiert, ist ein potenzieller Wutpolitiker. Die Lunte, die zum Sprengsatz führt, kann unter Umständen, zu denen auch die unberechenbare regierungsamtliche Betriebstemperatur gehört, sehr kurz sein. Wenn es dann zur Explosion kommt, trifft es zumeist gerechterweise alle ohne Ansehen der Partei, die in der Nähe sind, Genossen, Koalitionspartner, Bedienstete, Journalisten, Internetbenutzer und jeden, der ihm zu widersprechen wagt oder nur den Eindruck erweckt, dies möglicherweise vorzuhaben.

In diesem Fall mussten bloß ein paar Menschen in Hirschberg auftauchen, um mit einem Schild, auf dem tote Harzfichten zu sehen waren, gegen die sogenannte Stilllegung eines Waldareals in der Region zu protestieren. Der Umstand, dass sich die Kritik eher gegen die grüne Umweltministerin richtete, mit der Ramelow an diesem Tag unterwegs war, schien den ministerpräsidentiellen Furor erst recht anzufachen: Mit paternalistischer Inbrunst warf er sich vor die Kabinettskollegin, obwohl diese, wenn man ihre indignierte Mimik richtig interpretiert, nicht unbedingt von Ritter Ramelow gerettet werden wollte.

Sowieso tat der Ministerpräsident alles, was, zumindest bislang, im Verbotsteil jedes Politikerknigge steht: Er belehrte, unterbrach, hörte nicht zu und wurde immer lauter. Der eindrückliche Videobeweis des Kollegen Peter Cissek von der Ostthüringer Zeitung findet sich im Netz.

Doch wie es so oft ist bei Bodo Ramelow: Mit vielem, was er der verdutzten Wählerschaft entgegenschrie, hatte er durchaus recht. Er referierte im Stakkato Fakten und verwies die Protestierer, die vom örtlichen CDU-Landtagsabgeordneten und JU-Landeschef begleitet wurden, auf die unbestreitbare Tatsache, dass es, wenn es so trocken bleibt, um die Existenz des Waldes insgesamt geht und nicht um die Frage, wie nun genau ein paar Hundert Hektar bewirtschaftet werden.

Peter Cissek schrieb in einem Kommentar zu diesem Thema: „Einerseits war es schockierend mitzuerleben, wie der Landesvater mit seinem Wahlvolk umging. Doch andererseits beklagen viele Leute, dass es kaum noch Politiker mit Charisma, Ecken und Kanten gibt, sondern nur noch welche, die vorsichtig formulieren, die keinen Klartext reden. Je öfter ich mir das Video angesehen habe, muss ich als Nicht-Forstfachmann sagen, dass Ramelows lautstark vorgetragene Argumente einleuchtend sind.“

Damit hat er einen zentralen Teil des Phänomens Ramelow prägnant zusammengefasst. Denn egal, ob der Regierungschef auf Twitter Leute anpöbelt, in Bürgergesprächen laut wird oder in Interviews Journalisten zusammenstaucht: Er ist zumeist informiert – und, das ist für die Außenwirkung sogar noch wichtiger, immer ganz er selbst. Seine Ausbrüche mögen vielen Beobachtern unsympathisch erscheinen und für die direkt Betroffenen unangenehm sein: Sie sind echt, unverstellt, ja: authentisch.

Und, Authentizität ist nun mal die wichtigste, gleichzeitig aber nur schwer zu erlernende Fertigkeit des postmodernen Spitzenpolitikers. In einer Debattenlage, in der zunehmend Gefühl über Verstand siegt und Stimmung über Fakten, geht es noch stärker als einst um die Frage, welchem einen Menschen viele andere Menschen instinktiv vertrauen. Je näher die Landtagswahl rückt und je schneller der Umfragetakt wird, umso stärker drängt sich der Eindruck auf, dass diese Frage über die Zusammensetzung der künftigen Regierung in Thüringen entscheiden könnte.