Martin Debes hält eine verspätete Osterpredigt.

Das merkwürdig-traurigste Ostern der jüngeren Geschichte ist absolviert. Ausgerechnet nach dem christlichen Fest, das den Glauben an die Wiederauferstehung des gekreuzigten Gottessohns feiert, soll nun darüber entschieden werden, wie die Gesellschaft zu reanimieren sei.

Niemand, auch nicht die Regierung, darf sich ausreichend informiert fühlen. Die Wirkung des neuen Corona-Virus bleibt selbst Virologen teilweise ein Rätsel. Die Zahl der Infizierten jenseits der Tests ist trotz erster Studien spekulativ. Selbst die Registrierung der Toten führt zu unbeantworteten Fragen.

Dennoch muss, bis bessere Daten vorliegen, auf dieser fragmentarischen Basis entschieden werden. Damit die Anzahl der Erkrankten nicht die Kapazitäten der Krankenhäuser sprengt, und damit jeder Patient die bestmögliche Behandlung erhalten kann, ist die Ansteckungsrate möglichst niedrig zu halten. Gleichzeitig soll der ökonomische Kollateralschaden am Ende nicht zu größeren Verheerungen als die Epidemie selbst führen. Schon jetzt weist vieles darauf hin, dass wir am Beginn der größten Weltwirtschaftskrise seit 1945 stehen. Auch hier geht es um Abertausende, weltweit sogar um Millionen Menschenleben.

Diese Abwägung mit all ihren ethischen Implikationen ist fordernd, ja überfordernd. Dies zeigten das anfängliche föderalkommunale Durcheinander, die polizeilichen Überreaktionen und manch propagandistische Verrenkungen. Die Aussage etwa, ein kollektiv getragener Mund-Nasen-Schutz bringe wenig, war mehr dem Mangel an Schutzausrüstung als wissenschaftlicher Evidenz geschuldet.

Trotz berechtigter Kritik können in Deutschland die bisherigen Resultate der Maßnahmen Hoffnung stiften. Das gilt erst einmal für das Virus selbst. Die Ausbreitung hat sich verlangsamt, die Zahl der stationären untergebrachten Covid-19-Patienten steigt in einem absehbar verkraftbaren Maß.

Auch die Hilfen für die Wirtschaft scheinen den historischen Abschwung vorerst zu dämpfen, der große Crash der Finanzmärkte wurde verhindert. Zumal: Die Gesellschaft hält. Die allermeisten Menschen respektieren die in der Bundesrepublik nie da gewesenen Einschränkungen – und zwar nicht bloß aus Angst vor der Ansteckung, sondern auch aus Sorge um jene, die besonders bedroht sind.

Trotzdem muss zu nahezu jedem Satz ein pessimistisches Wort hinzugefügt werden. Es lautet: Noch.

Noch steht die Pandemie an ihrem Anfang. Noch sind die Krankenhäuser halb leer. Noch ist nur ein Bruchteil der Bevölkerung infiziert. Noch fehlt ein Impfstoff. Noch gibt es keine Massenarbeitslosigkeit und keine Pleitewelle. Noch herrscht gesellschaftlicher Frieden. Noch gewinnen die Populisten und Extremisten nicht hinzu. Noch können die enormen Einschränkungen persönlicher Grundfreiheiten als verhältnismäßig gelten. Und: Noch gibt es die EU, ist Ungarn keine Diktatur und könnten Flüchtlinge endlich wie Menschen behandelt werden.

Zwischen all diesen Nochs gilt es, die hiesige Strategie neu zu kalibrieren, in vorsichtigen, gut abgestimmten und vermittelten Schritten. Zuerst dürften Schulen teilweise öffnen, dazu Geschäfte und Friseure, mit Maskenpflicht. Später können dann Restaurants, Hotels und Cafés an die Reihe kommen, mit den inzwischen eingeübten Abstandsauflagen und Hygieneregeln. Kinos, Theater und Diskotheken hingegen werden wohl länger geschlossen bleiben.

Auch sonst werden wir nicht in unser altes Leben zurückkehren, sondern in ein neues, anderes, in dem wir uns anders begegnen, in dem wir anders arbeiten, anders reisen, anders kommunizieren, anders demonstrieren – ja: anders denken, aus anderen Perspektiven andere Prioritäten setzen, zum Beispiel in der Frage, was uns ein Gesundheitssystem und sogenannte systemrelevante Berufsgruppen wert sind. Parallel dazu werden sich die tiefgreifenden sozialen, ökonomischen und technischen Transformationsprozesse, die jetzt schon gewaltige Verwerfungen erzeugen, zusätzlich beschleunigen.

Wichtig wird sein, diesmal den notwendig dazugehörenden Streit auszuhalten und ihn zivilisiert zu führen. Das gilt gleichermaßen für Politiker und Wissenschaftler wie für uns Bürger. Argumente sind zu diskutieren, nicht zu negieren, im Rahmen des Grundgesetzes, selbst wenn dies Unfug einschließt.

Auch aus dieser Krise wird es nur einen geschlängelten, holperigen Mittelweg geben und keine geradlinige, glatte Straße.