Martin Debes über den 3. Oktober.

Ich weiß noch, was ich am 3. Oktober 1990 gemacht habe. Ich hatte, mit schrecklich unreifen 18 Jahren, das erste Mal mit Westgeld, einige Westknaller und Westraketen erworben, von denen bestimmt die meisten aus China und Polen stammten.

Es gab, so wild war damals die Zeit, eigens eine behördliche Sondergenehmigung zum außerplanmäßigen Verkauf von Feuerwerkskörpern. War also die Währungsunion unser ostdeutsches Weihnachten, wurde dies nun die gesamtdeutsche Silvesterfeier.

Der Geruch von verbranntem Schwarzpulver, dazu rote, gelbe und grüne Funken, die im klaren Himmel verglühten: Viel mehr Erinnerung ist allerdings nicht an den Tag vorhanden, der doch historisch war.

Der 3. Oktober war ein gegriffenes Datum, vertraglich festgelegt von Politikern, Abgeordneten und Bürokraten. Der „Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland gemäß Artikel 23 des Grundgesetzes“ musste bis zum 7. Oktober erfolgen, weil zu diesem Tag die Anmeldefrist für die am 2. Dezember geplante Bundestagswahl begann und weil, nun ja, der 41. sogenannte Republikgeburtstag kein Geburtstag mehr sein sollte.

Der Tag markierte das Ende der DDR, aber auch das Ende jener Zeit, die für die meisten derer, die nicht im Staatsapparat Verwendung gefunden hatten, wie ein einziges großes, fröhliches Fest wirkte. Die Demonstrationen, der Mauerfall, die ersten Reisen in den Westen, die freien Wahlen, die Währungsunion: Ständig passierte etwas Neues, Aufregendes, und ja: Gutes.

Und der 3. Oktober markierte den Beginn der neuen, gemeinsamen Bundesrepublik, mit all ihren Möglichkeiten, aber eben auch all ihren Nebenwirkungen und Risiken. Die ersten Massenentlassungen liefen, und es vollzog sich das, was sich heute kühl Deindustrialisierung nennt. Jeden Tag verließen Hunderte Menschen das Land Thüringen, das sich gerade erst wiedergründete. Sie flüchteten geradezu, vor Arbeitslosigkeit, niedrigen Löhnen und fehlenden Perspektiven.

Ich war im Herbst 1989 gleichzeitig volljährig und frei geworden und hatte nun, ein Jahr später, einen kurzen Zivildienst angetreten, nach dem eben erst geänderten, sehr liberalen DDR-Recht. Ich bekam dafür, das gehörte zu den Wundern der Einheit, vollen Westsold. Ich arbeitete in der heimatörtlichen Dorfverschönerungsbrigade, die im Sommer an den Gemeindehäusern herumwerkelte und im Winter Schnee schippte und ansonsten auch mal, wenn niemand aus den Behörden so genau hinschaute, einen Graben für die Post aushob oder an einer Straße mit baute.

Wir waren ein Dutzend Leute, die meisten gehörten zu einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme, kurz ABM. Es handelte sich ausschließlich um Männer zwischen 50 und 60. Bis vor wenigen Wochen waren sie noch als Glasfacharbeiter, Lastwagenfahrer oder Tischler ihrem erlernten Beruf nachgegangen. Nun zogen der Armin, der Gerhard und der Karl-Heinz mit Schaufel durch ihr Dorf, in dem sie jeder, der ignorant genug war, abschätzig betrachten konnte.

Damals begann eine neue Teilung, eine Teilung in Gewinner und Verlierer, wobei die meisten der Gewinner, von der Anzahl her, im Westen saßen. Sie profitierten von neuen Märkten und von den gut ausgebildeten Fachkräften, von den Beamten- und Professorenstellen oder von den Steuervorteilen, dank derer sie ganze Häuserzüge im Osten aufkauften.

Natürlich, es gab auch in den angeblich neuen Ländern viele Gewinner, es waren nicht immer, aber häufig die Jungen, Unbelasteten, Mobilen. Und natürlich: Die Aber- und Abermilliarden an Strukturhilfen sorgten für sanierte Städte, neue Straßen und saubere Luft – und zu einem im Durchschnitt deutlich höheren Wohlstand.

Aber das ganze schöne Westgeld konnte nie den Verlust von Arbeitsplatz und Anerkennung ausgleichen – was aber nur, wenn überhaupt, in Ostdeutschland reflektiert wurde. In der gesamtdeutschen, westlich dominierten Erzählung der Einheit kamen über Jahrzehnte die Verlierer kaum vor, und wenn doch, dann vor allem als undankbare Jammerossis.

Diese Rhetorik hat sich zuletzt geändert, auch deshalb, weil ein Teil der Ostdeutschen in Wahlen so abstimmt, wie er gerade abstimmt. Doch es reicht nicht, nachträglich Fehler einzugestehen und die sogenannte Lebensleistung zu würdigen. Wer die neue Teilung überwinden will, darf nicht nur reden. Er muss wirklich verstehen wollen – und dann handeln.