Henryk Goldberg wühlt in übervollen, ungeleerten Mülltonnen

Nein, so kann man das nicht sagen. So wie es dieser Tage jemand sagte. Nämlich, sagte jemand, bei uns im Korridor, gleich neben der Wohnungstür, da sähe es aus wie bei Hempels unterm Sofa. Das ist natürlich Quatsch. Es ist schon deshalb Quatsch, weil, was bei uns im Korridor liegt, das würde weder unter Hempels noch irgendjemandes Sofa passen. Es ist viel zu viel. Es ist Papier und Pappe sonder Zahl.

Nämlich, die Stadtwerke haben die drei Papiertonnen, die dem Haus hier auf dem Hof zur Verfügung stehen, schon seit einiger Zeit nicht geleert. Deshalb, um hier einmal ein verwegenes Bild zu wagen, deshalb also sieht das hier so aus wie bei Hempels auf dem Hof, und da ist deutlich mehr Platz als unterm Sofa. Auf allen drei Tonnen türmen sich Berge von Pizza-Pappe, das sieht noch appetitlicher aus als fotografierte Bratwürste mit Senf. Klar, wenn die Menschen nicht essen gehen können, dann lassen sie sich das Essen bringen. Wir machen das auch gelegentlich, allerdings eher weniger Pizza, was nicht nur der unaufwendigeren Verpackung geschuldet ist. Unter dieser dicken Schicht von Pizza-Pappe, ich weiß das, weil ich ihr Wachstum Stück für Stück, Pizza für Pizza verfolgen konnte, unter dieser Schicht findet sich der Beleg, dass es auch in der Corona-Krise Kriegsgewinnler gibt. Nämlich, der Versandhandel. Da muss ich nicht, was ohnehin nicht zu meinen bevorzugten Tätigkeiten gehört, die Wirtschaftsseiten dieser und anderer großer Zeitungen lesen, da muss ich nur in die Tonnen auf unseren Hof schauen um zu sehen, dass die Systempresse doch manchmal recht hat: Der Versandhandel brummt. Und zwar so, dass seine pappigen Rückstände den größten Teil der Tonnen füllen. Klar, wir sind solidarisch, aber wenn die Lokale samt den lokalen Geschäften geschlossen sind und obendrein noch Weihnachten ist…

Okay, Weihnachten war. Übrigens werden hier, in der Tonne, auch Fragen des hochsensiblen Datenschutzes tangiert. Die Möglichkeiten der Corona-App wurden aus Gründen des hochheiligen Datenschutzes eingeschränkt, aber hier wird er so zu sagen, in die Tonne getreten. Es wäre mir ein leichtes, einige der Geschenke zu analysieren, die die Leute sich hier im Haus geschenkt haben, auf diesen Rest-Pappen sind Absender und Adressat gut zu erkennen. Also, diese nicht mehr ganz so junge Frau da zum Beispiel, die hat doch tatsächlich – aber nein, sonst komm ich noch in Teufels Küche. Apropos Küche, man merkt den Tonnen deutlich an wie die Zeit verging, da sind gleichsam die Jahresringe in den Müll geschichtet. Nach den vielen Karton-Resten aus dem Versandhandel, also nach Weihnachten, geht das Leben nach der polnischen Weihnachtsgans und anderen Spezereien seinen normalen Gang, dann gibt’s wieder gute deutsche Pizza.

All das, was die Tonnen im Hof verstopft, bis auf die Pizza-Pappe, stapelt sich nun auch bei uns im Korridor, weil, unten ist kein Platz mehr, schon seit fast zwei Wochen. Und wir haben hier ein Problem, das andere im Haus nicht haben, wir lesen Zeitung. Diese natürlich aus Deutschlands Mitte, dann noch eine mehr aus dem Süden, schließlich noch eine Wochenzeitung und ein Nachrichtenmagazin, beide aus einer nördlichen Gegend. Jedenfalls, das macht eine Menge Papier und das steht da alles so rum. Dabei, wir sind die einzigen Zeitungsleser hier im Haus. Das ist natürlich unschön, einerseits, andererseits, wenn die Leute wären, wie wir es gern hätten, dann wäre der Hof noch voller. Dennoch habe ich mich, so ganz leise, gefragt, ob der Blick in die Tonne auch einer in die Zukunft ist: Viel Futter, große Geschenke und keine Zeitung. Ob man in einer nahen Zukunft womöglich nicht Goethe oder Adorno lesen muss, um als Intellektueller zu gelten, ob sich einer diesen Ruf womöglich schon als Zeitungsleser zu erwerben vermag. Immerhin, das würde unseren viel gescholtenen Berufsstand doch ziemlich aufwerten, vom Schreiberling, vom Lohnschreiber, vom Zeilenschinder zum, so zu sagen, Thomas Mann des kleinen Mannes.

Und die Hügel, die unsereiner so aufzuschütten vermag sind auch schneller erstiegen als Zauberberge. Da bleibt mehr Zeit für Pizza.