Matthias Dell über Kirchen, Gespenster und Straßen.

In der letzten Woche schrieb der professionell geschätzte und persönlich gemochte Kollege (kurz: p. g. u. p. g. K.), den sie heute hier vermissen, an dieser Stelle über einen Kulturkampf. Gemeint war die Debatte um die Umbenennung einer Erfurter Straße. Zum Kulturkampf gehören aber immer zwei, wie wir Glaubenskrieger sagen, hielt ich daraufhin dem p. g. u. p. g. K. beim Kaffeetrinken entgegen. Also zumindest sinngemäß. Jedenfalls war der p. g. u. p. g. K. so nett, mir diesen Platz heute zu überlassen.

Das mit dem „Kulturkampf“ und den „Glaubenskriegern“ war gerade ein Spaß. Denn mein Vorschlag in dieser Sache wäre, die Kirche im Dorf zu lassen. Streit kommt in den besten Familien vor, und Straßen werden die ganze Zeit umbenannt. Fragen Sie mal die Leute, die in Stotternheim in der Goethestraße gewohnt haben und seit der Eingemeindung in die Landeshauptstadt in der Geheimrat-Goethe-Straße zu Hause sind, weil es in Erfurt schon eine Goethestraße gibt. Die haben sich das auch nicht ausgesucht, die werden auch keinen Bock auf den Papierkram gehabt haben, und dass der neue Name nun der schönste von allen wäre, wird niemand behaupten – Tausendsassa-Goethe-Straße wäre dem Universalgenie viel gerechter geworden. Und? Kein Kulturkampf, ein Verwaltungsakt. Und weit und breit keine Stadtratsfraktion, die als Rächerin der Enterbten stolz verkündete, dass die Interessen der Betroffenen vor Ort nun wirklich oberste Priorität haben.

Dass bei dem Anwohner-Argument mit zweierlei Maß gemessen wird, wird einem klar, wenn man sich die Mühe macht und ins Archiv geht. Als nach 1990 in Ostdeutschland in großem Stil Straßennamen geändert wurden, da war es der seinerzeit dominanten CDU relativ schnurz, ob man Otto Grotewohl nicht auch als Kind seiner Zeit sehen könnte (bis zur Zwangsvereinigung ein ehrbarer Sozialdemokrat!). Oder dass der Großteil der Leute etwa in der Berliner Jacques-Duclos-Straße kein Problem mit dem Namensgeber hatte, einem Bäcker, Kommunisten und Résistance-Kämpfer, nun aber trotzdem jeden Tag in der Möllendorffstraße aufwacht.

Keine Frage: Der Vorschlag, das Erfurter Nettelbeckufer in Gert-Schramm-Ufer umzutaufen, ist mehr als ein Verwaltungsakt. Mit Kolonialismus und Rassismus haben wir weißen Deutschen uns bislang kaum beschäftigt. Und dass das mitunter unangenehm ist, das merken Sie vielleicht daran, dass sie gerade gestolpert sind über meine Formulierung „wir weißen Deutschen“ (wenn nicht, umso besser).

Aber Debatten muss man eben auch führen, dem Hin und Her der Vorurteile, Gefühle und Argumente Zeit und Raum geben. Und nicht wie manche Parteien eifrig Fakten schaffen wollen durch einen möglichst schnell verabschiedeten, vermeintlichen Kompromiss. Der dann das Nettelbeckufer „rettet“ und die Diskussion beendet, indem fix eine neugebaute Straße am Stadtrand nach Gert Schramm benannt wird.

Denn der Vorschlag, eben das Nettelbeckufer künftig Schramm zu widmen, ist fast so genial wie Goethe, so rein erinnerungspolitisch. Schramm wurde 1928 am Nettelbeckufer 15 geboren. Und das spricht gegen das Schreckgespenst, das auch der p. g. u. p. g. K. letzte Woche hier an die Wand gemalt hat, diese komische Reinheitsfiktion. Dass nämlich die verzärtelten Leute von der Initiative den Stadtraum von Zeichen der Vergangenheit säubern wollten, von den dunklen Kapiteln deutscher Geschichte. Dabei hat doch, muss man ehrlicherweise sagen, erst die Initiative uns mit der schmutzigen Vergangenheit konfrontiert, für die Nettelbeck steht. Und dessen Geschichte als Held von Kaiserreich und Nazi-Regime soll und kann gar nicht verschwinden. Weil noch die Urenkelin, wenn sie fragte, wer Gert Schramm war, erfahren würde, dass er geboren wurde in dieser Straße, als sie Nettelbeckufer hieß.

Und dass Schramm die Geschichte, in der Nettelbeck für die Täter steht, von der anderen Seite her repräsentiert. So wie in diesem Beispiel: „Von der Hitler-Zeit erzählen, zum Beispiel, die Thälmannstraße und eben die Stauffenbergallee, auch ohne Hitler-Straßen.“ Das hat übrigens der p. g. u. p. g. K., den sie nächste Woche hier wieder lesen, im Frühjahr geschrieben: „Auch so wird Geschichte erzählt.“ Besser geht’s nicht.